Samstag, 4. Juli 2009

Ein Tag in Wuppertal

Die letzten Vorbereitungen müssen nun getroffen werden; die ersten Abschiede liegen hinter mir - meine Eltern sind heute Morgen um fünf ab nach Frankreich.
Die Hemmschwelle, merkwürdige Dinge zu tun, sinkt scheinbar mit jedem Tag, und so stand ich doch heute Morgen tatsächlich im Schlafanzug auf der Straße und habe dem Auto hinterher gewunken.
Diese tat bleibt unkommentiert.

Gestern war ich in Wuppertal und habe dort Karla, eine Nicaraguanerin, und Ulla getroffen, die für die Städtepartnerschaft zwischen Wuppertal und Matagalpa zuständig ist.
Mit Karla habe ich ein langes Interview geführt - als Teil der Vorbereitung - und wir haben dabei beide fest gestellt, wie merkwürdig es sein kann, wenn jemand anderes mit den Augen eines Fremden das eigene Land entdeckt.
Das Interview füge ich bei; nochmals herzlichen Dank an Karla und Ulla!



Interview mit Karla Patricia Dominguez Castillo

An diesem Nachmittag sitzen Karla Patricia Dominguez Castillo und ich in ihrer kleinen Küche in Wuppertal und ihre großen braunen Augen blicken mich neugierig und erwartungsvoll an.

Schon im Bus sind wir aufgefallen, denn mit ihren dichten, pechschwarzen Rasta-Zöpfen ist sogar Karla, die eigentlich recht klein ist, nicht zu übersehen.

Ihre Wohnung in einem alten bergischen Haus teilt Karla sich mit zwei weiteren ausländischen Studenten, hier, direkt unterm Dach, ist es hitzig und stickig, während sich draußen Regenwolken türmen.

„So ein Wetter haben wir in Nicaragua oft“, sagte sie; sie hat noch immer einen kleinen Akzent und doch fällt es ihr nicht schwer, Deutsch zu sprechen.

Als das jüngste von elf Kindern ist Karla einen ungewohnten Weg gegangen; all ihre Geschwister haben Nicaragua noch nie verlassen, haben dafür bereits Kinder, sind verheiratet; Karla ist die erste, die so weit weg von zu Hause ist und manchmal packt sie doch das Heimweh.

„Am Anfang war es schwer; es war so vieles so anders, ich konnte gar nicht schlafen. Wenn ich jetzt Heimweh habe, schreibe ich in mein Tagebuch. Danach geht es mir sofort besser.“

Eine dreizehnköpfige Familie, so wie Karlas, ist selbst für nicaraguanische Verhältnisse groß; die meisten haben fünf Kinder, auf dem Land mag es anders sein. Dass es in Deutschland Familien mit nur einem Kind gibt, kann sie auch nach drei Jahren noch nicht nachvollziehen.

Dass Karla Nicaragua verlassen würde, um nach Deutschland zu kommen, hat sie selbst nicht gedacht; sie war gerade dreiundzwanzig und studierte eigentlich Architektur in Managua, ihrer Heimatstadt, als eine Bekannte sie fragte, ob Karla bei ihr als Au-Pair ein Jahr in Deutschland, in Recklinghausen, verbringen wolle. Karlas Bekannte pendelte schon seit Jahren zwischen Europa und Mittelamerika und konnte bereits gut Deutsch sprechen.

„Ich habe tagsüber deutsche Bücher gelesen“, erzählt sie von ihren Anfängen mit der fremden Sprache, „dann saß ich da mit einem Lexikon und habe viel nachschlagen müssen und nicht alles verstanden. Abends habe ich dann spanische Bücher gelesen. Mit der Zeit hat sich das eingependelt. Jetzt habe ich gar keine Zeit mehr zum Lesen.“ Sie lacht. „Aber das muss ich ja jetzt auch nicht mehr.“

Karla selbst wusste zu Beginn ihrer nun schon dreijährigen Reise wenig von dem, was sie hier, in Europa, erwartete, und wahrscheinlich war das erste Jahr gerade deswegen so schwer für sie.

„Meine Eltern fanden es nicht so gut“, sagt sie, „immerhin habe ich mein Studium abgebrochen in Managua; und über Deutschland wussten wir alle nicht so viel. Aber als ich dann nach einem Jahr gesagt habe, dass ich weiter hierbleiben möchte, um zu studieren, haben sie sich alle sehr gefreut.“

Mit vierundzwanzig zog Karla von Recklinghausen nach Wuppertal, wo sie nun seit zwei Jahren Blockflöte an der Musikhochschule studiert. Gerade gestern hat sie ihre Aufnahmeprüfung mit dem Klavier bestanden, seit kurzem ist sie Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Das Studium der Blockflöte hat Karla auch bei der Erschließung der neuen Kultur geholfen: „Ich höre die Musik und verstehe plötzlich viel mehr von Deutschland und von Europa. Dann sehe ich eine Kirche oder ein altes Haus und ich kann mit meinem Wissen der Barockmusik die Kultur neu entschlüsseln. Das hilft mir.“

Zudem ist einer ihrer Dozenten Argentinier. Mit ihm unterhält sie sich auf Spanisch und allein das hat ihr einen enormen Rückhalt gegeben.

„In Nicaragua wäre so ein Studium der Barockmusik nicht möglich gewesen“, fügt sie hinzu und man merkt schnell, dass Karla sehr stolz darauf ist.

In zwei Jahren, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben wird, will sie wieder zurück nach Managua. „Ich kann mir nicht vorstellen, in Deutschland zu bleiben. Es ist ein schönes Land, aber ich kann hier nicht für immer leben.“

In den Jahren, in denen sie nun schon hier lebt, hat sie auch einige andere Länder Europas bereist. „Frankreich kenne ich besser als Deutschland, da habe ich einiges sehen können, ich war auch schon in Spanien, in Barcelona; da falle ich nicht so sehr auf.“

Wenn sie noch ein bisschen mehr Zeit hätte, würde Karla nach Italien reisen. „Das möchte ich wirklich einmal sehen. Aber momentan habe ich leider keine Zeit.“

Als ich sie frage, was sie besonders an Deutschland mag, braucht sie nicht lange, um zu antworten: „Die Leute“, sagt sie, „sind hier ganz anders; wenn sie etwas sagen, dann meinen sie es auch so. In Nicaragua weiß man nie, wie die Leute wirklich über dich denken. Das ist hier viel angenehmer, die Deutschen sind ehrlicher.“ Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Glas. „In Nicaragua gibt es auch nicht so viele Einwanderer wie in Deutschland; es ist hier viel internationaler, man hat schneller das Gefühl, dazu zu gehören.“

Mindestens genau so schnell weiß Karla aber auch, was ihr an Deutschland nicht gefällt und was sie aus ihrer Heimat, Nicaragua, besonders vermisst: „In Nicaragua ist es lauter, man bekommt viel mehr mit vom öffentlichen Leben, die Familien leben viel offener zusammen. Die Deutschen sind oft sehr reserviert. Man kann nicht einfach so vorbeikommen. In Nicaragua stehen die Türen immer offen, man kann jederzeit einfach reinschauen – deshalb fällt es uns auch leichter, keine Termine wahrzunehmen.“ Sie lächelt.

Was ihr Lieblingsessen angeht, weiß Karla zu beeindrucken.

„Ich lasse mir Bohnen schicken“, sagt sie, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Die deutschen Bohnen sind nicht gut. Damit kann man nicht kochen.“ Dafür schwärmt sie von Sauerkraut und selbst gemachten Frikadellen.

Diese interkulturellen Verknüpfungen findet sie spannend; beinahe beleidigt erzählt sie mir schließlich von einer Frau, einer Deutschen, die Karla zu Beginn ihres Aufenthaltes erklärte, dass sie mit ihrem Studium in Deutschland ihre Identität verlieren würde. „Das ist doch Quatsch“, meint sie und regt sich scheinbar noch immer etwas auf, „meine Identität setzt sich aus Nicaragua und Deutschland zusammen; es gehört beides zu mir und ich stehe dazu. Wie soll ich also meine Identität verlieren?“ Trotzig fügt sie hinzu: „Ich mag Barockmusik, sehr, sehr gerne!“

Ich glaube ihr, denn als ich ihr später von einem Stück für Blockflöte berichte, das ich vor einiger Zeit auf der Mandoline gespielt habe, fängt sie sofort an, den Anfang des Liedes zu singen und bewegt sich dabei, als hätte sie eine Flöte in der Hand, als flutete die Musik durch den ganzen Raum.

Noch zwei Jahre wird Karla in Wuppertal studieren; dann wird sie nach Nicaragua zurück kehren, um dort Blockflöte zu unterrichten, vielleicht an einer Musikschule.

„In Deutschland wird Musik viel mehr unterrichtet“, sagt sie, „das ist gut. Fast jedes Kind spielt hier ein Instrument. In Nicaragua sind es nur wenige, es gibt einige populäre Musiker; und viel Gesang; man singt viel.“

Eine letzte Frage stelle ich ihr noch, bevor ich gehe; ich möchte wissen, ob es ein Problem sein wird, dass ich als Frau nach Nicaragua gehe. Karla legt den Kopf auf die Seite und die Rasta-Zöpfe fliegen durch die Luft.

„Ich glaube nicht“, sagt sie. „Du wirst nicht mehr Probleme haben als ich. Vielleicht wird man etwas auf der Straße sagen, dagegen kann man nichts machen; aber das passiert dir auch in Deutschland. Geh einfach nur nie allein. Und bleib in deinem Viertel; alle kennen sich in ihren Vierteln, wenn etwas passiert, wissen es alle.“

Mit einem Interview hatte das knapp zweistündige Gespräch wenig zu tun; viel eher haben Karla und ich uns ausgetauscht, haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb unserer Kulturen und genau so Eigenarten unserer Länder und Landsleute entdeckt – Karla staunt über die deutsche Bürokratie, während ich ihren Schilderungen von Weihnachten und anderen Festen lausche und mich schon auf den Moment freue, in dem ich ihre Erzählungen bestätigen kann.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.