An diesem Nachmittag sitzen Karla Patricia Dominguez Castillo und ich in ihrer kleinen Küche in Wuppertal und ihre großen braunen Augen blicken mich neugierig und erwartungsvoll an.
Schon im Bus sind wir aufgefallen, denn mit ihren dichten, pechschwarzen Rasta-Zöpfen ist sogar Karla, die eigentlich recht klein ist, nicht zu übersehen.
Ihre Wohnung in einem alten bergischen Haus teilt Karla sich mit zwei weiteren ausländischen Studenten, hier, direkt unterm Dach, ist es hitzig und stickig, während sich draußen Regenwolken türmen.
„So ein Wetter haben wir in Nicaragua oft“, sagte sie; sie hat noch immer einen kleinen Akzent und doch fällt es ihr nicht schwer, Deutsch zu sprechen.
Als das jüngste von elf Kindern ist Karla einen ungewohnten Weg gegangen; all ihre Geschwister haben Nicaragua noch nie verlassen, haben dafür bereits Kinder, sind verheiratet; Karla ist die erste, die so weit weg von zu Hause ist und manchmal packt sie doch das Heimweh.
„Am Anfang war es schwer; es war so vieles so anders, ich konnte gar nicht schlafen. Wenn ich jetzt Heimweh habe, schreibe ich in mein Tagebuch. Danach geht es mir sofort besser.“
Eine dreizehnköpfige Familie, so wie Karlas, ist selbst für nicaraguanische Verhältnisse groß; die meisten haben fünf Kinder, auf dem Land mag es anders sein. Dass es in Deutschland Familien mit nur einem Kind gibt, kann sie auch nach drei Jahren noch nicht nachvollziehen.
Dass Karla Nicaragua verlassen würde, um nach Deutschland zu kommen, hat sie selbst nicht gedacht; sie war gerade dreiundzwanzig und studierte eigentlich Architektur in Managua, ihrer Heimatstadt, als eine Bekannte sie fragte, ob Karla bei ihr als Au-Pair ein Jahr in Deutschland, in Recklinghausen, verbringen wolle. Karlas Bekannte pendelte schon seit Jahren zwischen Europa und Mittelamerika und konnte bereits gut Deutsch sprechen.
„Ich habe tagsüber deutsche Bücher gelesen“, erzählt sie von ihren Anfängen mit der fremden Sprache, „dann saß ich da mit einem Lexikon und habe viel nachschlagen müssen und nicht alles verstanden. Abends habe ich dann spanische Bücher gelesen. Mit der Zeit hat sich das eingependelt. Jetzt habe ich gar keine Zeit mehr zum Lesen.“ Sie lacht. „Aber das muss ich ja jetzt auch nicht mehr.“
Karla selbst wusste zu Beginn ihrer nun schon dreijährigen Reise wenig von dem, was sie hier, in Europa, erwartete, und wahrscheinlich war das erste Jahr gerade deswegen so schwer für sie.
„Meine Eltern fanden es nicht so gut“, sagt sie, „immerhin habe ich mein Studium abgebrochen in Managua; und über Deutschland wussten wir alle nicht so viel. Aber als ich dann nach einem Jahr gesagt habe, dass ich weiter hierbleiben möchte, um zu studieren, haben sie sich alle sehr gefreut.“
Mit vierundzwanzig zog Karla von Recklinghausen nach Wuppertal, wo sie nun seit zwei Jahren Blockflöte an der Musikhochschule studiert. Gerade gestern hat sie ihre Aufnahmeprüfung mit dem Klavier bestanden, seit kurzem ist sie Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Das Studium der Blockflöte hat Karla auch bei der Erschließung der neuen Kultur geholfen: „Ich höre die Musik und verstehe plötzlich viel mehr von Deutschland und von Europa. Dann sehe ich eine Kirche oder ein altes Haus und ich kann mit meinem Wissen der Barockmusik die Kultur neu entschlüsseln. Das hilft mir.“
Zudem ist einer ihrer Dozenten Argentinier. Mit ihm unterhält sie sich auf Spanisch und allein das hat ihr einen enormen Rückhalt gegeben.
„In Nicaragua wäre so ein Studium der Barockmusik nicht möglich gewesen“, fügt sie hinzu und man merkt schnell, dass Karla sehr stolz darauf ist.
In zwei Jahren, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben wird, will sie wieder zurück nach Managua. „Ich kann mir nicht vorstellen, in Deutschland zu bleiben. Es ist ein schönes Land, aber ich kann hier nicht für immer leben.“
In den Jahren, in denen sie nun schon hier lebt, hat sie auch einige andere Länder Europas bereist. „Frankreich kenne ich besser als Deutschland, da habe ich einiges sehen können, ich war auch schon in Spanien, in Barcelona; da falle ich nicht so sehr auf.“
Wenn sie noch ein bisschen mehr Zeit hätte, würde Karla nach Italien reisen. „Das möchte ich wirklich einmal sehen. Aber momentan habe ich leider keine Zeit.“
Als ich sie frage, was sie besonders an Deutschland mag, braucht sie nicht lange, um zu antworten: „Die Leute“, sagt sie, „sind hier ganz anders; wenn sie etwas sagen, dann meinen sie es auch so. In Nicaragua weiß man nie, wie die Leute wirklich über dich denken. Das ist hier viel angenehmer, die Deutschen sind ehrlicher.“ Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Glas. „In Nicaragua gibt es auch nicht so viele Einwanderer wie in Deutschland; es ist hier viel internationaler, man hat schneller das Gefühl, dazu zu gehören.“
Mindestens genau so schnell weiß Karla aber auch, was ihr an Deutschland nicht gefällt und was sie aus ihrer Heimat, Nicaragua, besonders vermisst: „In Nicaragua ist es lauter, man bekommt viel mehr mit vom öffentlichen Leben, die Familien leben viel offener zusammen. Die Deutschen sind oft sehr reserviert. Man kann nicht einfach so vorbeikommen. In Nicaragua stehen die Türen immer offen, man kann jederzeit einfach reinschauen – deshalb fällt es uns auch leichter, keine Termine wahrzunehmen.“ Sie lächelt.
Was ihr Lieblingsessen angeht, weiß Karla zu beeindrucken.
„Ich lasse mir Bohnen schicken“, sagt sie, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Die deutschen Bohnen sind nicht gut. Damit kann man nicht kochen.“ Dafür schwärmt sie von Sauerkraut und selbst gemachten Frikadellen.
Diese interkulturellen Verknüpfungen findet sie spannend; beinahe beleidigt erzählt sie mir schließlich von einer Frau, einer Deutschen, die Karla zu Beginn ihres Aufenthaltes erklärte, dass sie mit ihrem Studium in Deutschland ihre Identität verlieren würde. „Das ist doch Quatsch“, meint sie und regt sich scheinbar noch immer etwas auf, „meine Identität setzt sich aus Nicaragua und Deutschland zusammen; es gehört beides zu mir und ich stehe dazu. Wie soll ich also meine Identität verlieren?“ Trotzig fügt sie hinzu: „Ich mag Barockmusik, sehr, sehr gerne!“
Ich glaube ihr, denn als ich ihr später von einem Stück für Blockflöte berichte, das ich vor einiger Zeit auf der Mandoline gespielt habe, fängt sie sofort an, den Anfang des Liedes zu singen und bewegt sich dabei, als hätte sie eine Flöte in der Hand, als flutete die Musik durch den ganzen Raum.
Noch zwei Jahre wird Karla in Wuppertal studieren; dann wird sie nach Nicaragua zurück kehren, um dort Blockflöte zu unterrichten, vielleicht an einer Musikschule.
„In Deutschland wird Musik viel mehr unterrichtet“, sagt sie, „das ist gut. Fast jedes Kind spielt hier ein Instrument. In Nicaragua sind es nur wenige, es gibt einige populäre Musiker; und viel Gesang; man singt viel.“
Eine letzte Frage stelle ich ihr noch, bevor ich gehe; ich möchte wissen, ob es ein Problem sein wird, dass ich als Frau nach Nicaragua gehe. Karla legt den Kopf auf die Seite und die Rasta-Zöpfe fliegen durch die Luft.
„Ich glaube nicht“, sagt sie. „Du wirst nicht mehr Probleme haben als ich. Vielleicht wird man etwas auf der Straße sagen, dagegen kann man nichts machen; aber das passiert dir auch in Deutschland. Geh einfach nur nie allein. Und bleib in deinem Viertel; alle kennen sich in ihren Vierteln, wenn etwas passiert, wissen es alle.“
Mit einem Interview hatte das knapp zweistündige Gespräch wenig zu tun; viel eher haben Karla und ich uns ausgetauscht, haben Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb unserer Kulturen und genau so Eigenarten unserer Länder und Landsleute entdeckt – Karla staunt über die deutsche Bürokratie, während ich ihren Schilderungen von Weihnachten und anderen Festen lausche und mich schon auf den Moment freue, in dem ich ihre Erzählungen bestätigen kann.
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