Sonntag, 29. November 2009

Mein tatsächlicher Ausflug in die amerikanische Fiktion eines Fernsehauftrittes

Ich habe mich bereits im Voraus oft genug - und vielleicht manchmal nicht so objektiv wie es möglich gewesen wäre - über die Religion und den Glauben dieses Landes ausgelassen. Ich werde es nicht noch einmal tun, - und doch sitze ich Samstagmorgen um neun Uhr in der Frühe in der Iglesia San José, inmitten von Graduanten und nervösen Müttern und - ja! - Vätern, zappeligen Kindern und senilen Großeltern, die allesamt zu den göttlichen Liedern klatschen, die ein verschlafener Student auf einem Keyboard sich und uns zu Gemüte bringt. Einige stehen auf und schunkeln oder bewegen die von Mais und Bohnen genährten Hüften.
Ich sitze ein wenig ungläubig und vollkommen underdressed (das heißt nicht, dass ich nichts anhatte) in einer harten Kirchenbank.
Bereits vor Beginn der Veranstaltung hat Profe Daisy mir eine rote Plastikrose an die Jacke gesteckt, um zu retten, was zu retten war. Zu meiner Verteidigung möchte ich erwähnen, dass alle so eine Rose hatten. Sogar Profe Pedro.

Ich sitze in einer der hinteren Bänke neben einer anderen Lehrerin meiner Schule, die ich erst seit gestern kenne, die mir aber ein freundliches Lächeln schenkt; ich fühle mich ein bisschen besser. Einen halben Kilometer vor mir hebt ein nicaraguanischer Priester nun den goldenen Kelch und hält ihn zur Kirchendecke entgegen. Wir haben bereits einige Orationen gehört, Mary Lou hat ein paar Worte gesagt und eine aufgeregte Mutter hat aus dem Evangelium vorgelesen.
Stille herrscht selbst hier nicht; man ist ins Gespräch vertieft, die Leute reden, unterhalten sich, jemand hustet, ein Kleinkind schreit und das Wort Gottes ist nicht mehr zu verstehen.

Nach einer weiteren halben Stunde wechseln wir den Raum, gehen nach nebenan. Etwa zweihundert Menschen schieben sich durch die großen Flügeltüren in den kirchlichen Innenhof. Einer nach dem anderen durchschreiten die Graduanten, begleitet von einer Person ihres Vertrauens, einen blumigen Torbogen, Fotos werden geschossen, ihre Namen und die ihrer Begleiter werden vorgelesen.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits für mich beschlossen, dass ich mich am Eingang platzieren werde; ich bin krank und kann weder mit meiner Stimme noch mit meinem Husten beeindrucken. Es ist heiß und mit der Fleesejacke, die ich anhabe, kann man in der Arktis überwintern. Wie immer habe ich mich also optimal vorbereitet.
Mary Lou steht auf der Holzbühne des Saales, sieht mich und schickt mir einen Handkuss durch den ganzen Raum. Neben ihr hisste man die nicaraguanische Flagge, ein Plastiktisch und mehrere Plastikstühle sind dort aufgebaut, Geschenke und Abschlusszeugnisse liegen bereit, um verteilt zu werden.
Sobald alle Graduanten einen Platz haben, darf der Rest der Festgesellschaft eintreten und sie fluten die Reihen.
Norma steht neben mir, drückt meine Hand und zeigt auf die Bühne.
Nein, denke ich. Da gehen wir jetzt nicht hin.
Sie lächelt.
Doch.
Und schon wird ihr Name aufgerufen: Profe Norma Vitualia. Applaus. Die Jugend kreischt, die Erwachsenen klatschen, während Norma sich zu Maria Lou auf die Bühne setzt.
Nach ihr wird Profe Sandra aufgerufen. Dann Profe Judith. Dann Profe Olga. Profe Pedro. Profe Daisy.
Alles sitzt.
Nur ich stehe da auf diesem roten Teppich, als Profe Judith meine Befürchtungen komplett macht und mich gleichzeitig zum Strahlen bringt: Und zu guter letzt: unsere Schwester, unsere Freundin, sie ist ein Vorbild für uns alle, unsere Botschafterin aus Deutschland, Lehrerin für Ingles und Educacion Fisica: Barbara!

Ich denk, das Dach der Kirche hebt sich. Und im Nachhinein habe ich keine Ahnung, wie ich diesen Weg auf dieses Podest geschafft habe, ohne sämtliche Blumenarrangements von der Bühne zu kicken, aber ganz seriös, mit einem wissenden Lächeln schreite ich über den roten Teppich, der Falten wirft, auf Mary Lou, Norma, Judith und sie alle zu, während die 6to Grados so richtig Lärm machen.
Alle klatschen.
Ich strahle wie ein Honigkuchenpferd. Und den Rest des Vormittags verbringt das Vorbild für alle seltsam apathisch gut gelaunt zwischen seinen Lehrern, schwitzt wie ein kleines Ferkel und hustet vor sich hin.
Ich schüttle Graduanten die schwitzenden Händen, kriege dankbare Küsse von den guten Schülern und zwinkernde Blicke von den Lausebengeln. Als der Spaß vorbei ist, werden Fotos geschossen, ich muss posieren, Schüler umarmen mich, wünschen mir schöne Ferien und zwei Schlitzohren des nun ehemaligen Grados 6to B meinen: Profe, heute steigt eine Party bei mir. Jetzt, wo ich nicht mehr dein Schüler bin, kannst du ja kommen.

Dass die Verabschiedung der 6to Grados überhaupt irgendwann ein Ende fand, ist ein Wunder an sich. Als ich jedoch die Iglesia San José verlasse, habe ich das seltsame Gefühl, dass ich sogar für die Präsidentschaft kandidieren könnte; irgendjemand würde mich schon wählen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.