Dienstag, 24. November 2009

Zeit in Nicaragua

Wagen wir uns gleich zum Einstieg an den schwierigen Begriff der Zeit heran; wir stellen bereits im Voraus ohne jegliche kulturell oder klimatisch eingeschränkte Betrachtungsweise fest: die Zeit ist nicht so einfach, wie sie vergeht.

Sie vergeht ständig und vielleicht ist das gerade das gemeine an ihr: sie kann einfach nicht still stehen, kann nicht still sitzen, ein absoluter Zappelphilipp, ein physikalischer Suppenkasper, ständig in Bewegung, stets auf Achse, sie tut kein Auge zu, auch nicht in der Nacht.
Und dann stellt sie sich manchmal tot und zieht sich und uns dahin wie Kaugummi, und wir kriegen Kopfschmerzen und wollen wissen, wo sie kitzelig ist, damit dieser kleine, oder auch nur der große Zeiger einfach ein Stückchen weiter huscht.
Jeder, der einmal Schüler war, weiß, dass die Zeit ein recht gemeines Medium ist, denn sie dealt mit Minuten als wäre sie King Louie.
Ist sie ja auch irgendwie: denn ohne die Zeit geht gar nichts. Sie ist ein Gegensatz in sich und könnte sie sich uns auch nur in irgendeiner anderen Weise mitteilen als des stillen Tickens, würde sie verkünden, dass sie verdammt nochmal darauf stolz ist, so furchtbar endlos und so erschreckend endlich zugleich zu sein.

Aber sie kann nun mal nicht reden, worüber wir auch eigentlich froh sein könnten, denn sie würde ja nicht aufhören. In keinem Land der Welt kann sie sich anders mitteilen, als durch das leise Vergehen der Sekunden, der Minuten und der Stunden. Es wird Tag, es wird Nacht, dazwischen liegt die Zeit, die uns allen übrig bleibt, um das zu tun, was wir tun müssen, tun wollen, nicht tun wollen, oder eben nicht tun müssen. Das ist der Zeit eigentlich auch ziemlich wurscht, was wir mit ihr anfangen, denn sie ist ziemlich ignorant und vergeht einfach so.

Würde man die Zeit anhalten, wäre das vielleicht ziemlich spaßig, allerdings nicht zu diesem Moment, - denn ohne die Zeit geht eben gar nichts. Auf Meter und Zentimeter können wir verzichten, genau so auf Kilo und Gramm, aber nicht auf Minuten, Sekunden, Stunden, Tage, Nächte, Monate, Jahre, Jahrzehnte, Jahrtausende.
Die Zeit hat die Menschheit erst möglich gemacht; sie kam uns gelegen, hat uns manchmal geärgert, mit ihr wurden wir älter, ein bisschen klüger, aber nie so klug, dass wir sie hätten verstehen können. Das Problem dabei: sie weiß das.
Die Zeit ist eine Diva, eine absolute Königin, eine Marie Antoinette unter den Maßeinheiten.

Was hat das mit Nicaragua zu tun?

Nun; wer je einmal reiste, wird bemerkt haben, dass die Zeit zudem verschiedene Gesichter hat. Sie verhält sich anders, je nachdem, wo sie bzw. du gerade bist. In Deutschland ist sie ziemlich strikt und verzeiht keine vergeudete Minute. Unpünktlichkeit bedeutet Respektlosigkeit.
Wagt man jedoch die zarten Füße bereits nur ein paar Kilometer südlich und schlüpft in den italienischen Stiefel, dann bemerkt man schon, dass die Zeit hier viel gütiger, viel sanfter ist. Sie vergeht nicht anders als in Deutschland. 60 Sekunden pro Minute, ein ziemlich konstanter Herzschlag, absolut gesund, seit tausenden von Jahren.
In Nicaragua hat sie den gleichen Puls wie in Deutschland und doch denkt man hier wieder anders von ihr; in Deutschland nimmt man sie sehr ernst, während man sich in Nicaragua den ein oder anderen Spaß mit ihr erlaubt. Und sie macht sogar mit.
So als wäre nichts dabei. Ohne etwas zu sagen (und wir erinnern uns: sie kann nicht reden, aber in Deutschland würde sie sich schon bemerkbar machen), wird aus einer halben Stunde mehr als dreißig Minuten. Man spricht von einem rato, von einem ratito, - von einer Weile, einem Weilchen, und da sieht man schon, wie scherzhaft, wie einfach, wie locker die Nicaraguaner sie einfach so auf die Schulter nehmen. Für den Europäer ist es schwer, sie da zu verstehen. Es ist, als begegnete man zum ersten Mal seinem Freund oder seiner Freundin in betrunkenem Zustand: Was tust du da?
Nun gut, so stark ist es dann doch nicht: doch es braucht - haha! - seine Zeit, um sich an die Zeit hier zu gewöhnen.

Es ist sehr schwer, ihr bei dieser Betrachtung gerecht zu werden, denn immerhin wechselt sie so oft ihr Gesicht. Um überall zu sein, bedient sie sich verschiedener Tricks - denn selbst sie kann nicht überall zur gleichen Zeit sein; gerade deshalb nimmt sie einige Stunden Verspätung in Kauf, und ist doch immer pünktlich; in London ist es 16:00 Uhr, in Berlin 17:00 Uhr, in Moskau befindet man sich schon wieder ein Stückchen näher am nächsten Tag und in Matagalpa, Nicaragua, öffnen zu dieser Morgenstunde auch die großen Läden ihre Türe. Dies alles passiert zur gleichen Zeit, und ist doch Stunden des selben Tages auseinander entfernt.
Wahnsinnige Sache.

Doch wer beginnt, über die Zeit nachzudenken, der hat ein Problem: so unbefristet die Zeit selbst, so endlos seine Überlegungen, und aus Vorsicht und Vorsorge zugleich schließe ich meine Beobachtungen, die jeder bereits gemacht oder eines Tages machen wird, denn ich will ja zur Ruhe kommen.
Und das bedeutet: die Zeit sein lassen, denn nichts anderes tut sie sonst.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.