Dienstag, 8. September 2009

Canta, Profe!

Mal wieder habe ich Wochenende, - an einem Dienstag!
Da wird der Montag gleich zum Problem. Nein - aber der Dia de la independencia scheint selbst für die Nicas eine harte Nuss zu sein, die es zu knacken gilt. Umso gründlicher muss die Vorbereitung sein.
Und da habe ich am besten frei.
Dagegen habe ich wiederum nichts.

Heute in der Schule war es sehr lustig. Ich wurde geherzt und gedrückt und gequetscht und irgendwann hieß es nur: Canta, profe! Das war leider in der Pause und eigentlich wollte ich mich gerade von der 4to A erholen, die so ziemlich die schlimmste Klasse sind, die man sich vorstellen kann. Es ist eine ganz erstaunliche Ansammlung von Individuen und unglücklicherweise scheinen alle ständig den Aggregatzustand zu wechseln. Die armen Moleküle, aus denen sie sich zusammen setzen - diese Kinder lassen wirklich die Kuh fliegen und mittlerweile verstehe ich, warum la Profe Judith, ihre Klassenlehrerin, so eine rauchige Stimme hat. Ich dachte, sie wäre tatsächlich das Resultat einer strengen Zusammenarbeit am Ausbau des Ozonlochs von Pall Mall und ihr - aber tatsächlich ist Judith deshalb permanent heiser, weil sie die ganze Zeit schreien muss.
Als mich also nach einer anstrengenden Stunde meine Füße hinüber zur 4to B trugen, wurde ich von Careilla, Juliane, Nancy [Nanzi], Nathali und Kenia (gestern traf ich übrigens Galiläa) so stürmisch begrüßt, dass es mich fast umhaute. Ich wurde gedrückt und gequetscht und machte den Kugelfisch, meine Haare wurden gekämmt und die Kinder hätten mich bestimmt auch gewaschen und bettfertig gemacht, wenn sie die Möglichkeiten gehabt hätten. Letztlich war ich froh, dass ich meine Kamera zu Hause gelassen hatte, denn andernfalls hätten die Kinder womöglich Fotos von mir mit merkwürdigen Gesichtsausdrücken gemacht - und womöglich wäre mein späterer Arbeitgeber nicht begeistert gewesen. *

Auf jeden Fall fand ich mich schließlich umringt von fünf süßen Mädchen, die alle auf mich einredeten und sprachen: Canta, profe, canta, profe. Das Argument, dass ich erst zu Hause üben müsste, zog nicht und so saß ich da und sang ihnen ein paar Zeilen Morrissey. Vor deutschen Volksliedern wusste ich mich zu hüten und zum Glück wollten sie was Englisches.

Als die Pause vorbei war, erfuhr ich, dass es auch für mich und die 4to B vorbei sein würde - zumindest für heute. Also ging ich mit Brenda und Rosalinda nach Hause, - zwei Mädchen, die mich begleiteten und erst vor meiner Haustür gehen ließen. Da waren sie schon einen Riesenumweg gegangen.


*Ich kann mir übrigens vorstellen, später mal bei der EU zu arbeiten - ich glaube, da gibt es immer was zu tun. Und für Teilzeitidealisten wie mich ist das genau das richtige.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.