Freitag, 4. September 2009

Frühes Wochenende dank H1N1 (atsche uno enne uno)

Mittwoch schien für kurze Zeit die Welt unterzugehen, dafür aber mit einem ordentlichen Rums; mal wieder stand ich vor einer Klasse von nicaraguanischen Kindern, deren größte Gemeinsamkeit ihre Gesinnung ist – nennen wir es aufgeweckt. Im Prinzip lerne ich diesen Charakterzug der Nicas mit der Zeit immer mehr zu schätzen; und doch war ich Mittwoch recht ratlos. Dass die Stöpsel der 4to A und 4to B mit ihren süßen zehn Jahren die englische Sprache als schwierig erachten und mir dies ohne Hemmungen zeigen, kann ich noch verstehen. Aber dass auch die älteren an der Schule sich an kein einziges Wort erinnern, dass sie im letzten Jahr gelernt haben, machte mich fast wütend. Ich weiß, dass sie nichts dafür können, aber es bleibt mir doch ein wenig unbegreiflich, dass ausgerechnet diejenigen, die sonst die größte Klappe haben, mit einem Male ganz schüchtern werden, wenn sie zwei Sätze von der Tafel ablesen sollen. Ich versuche dann, ihnen zu helfen, spreche die Sätze mit ihnen gemeinsam und sage ihnen, dass es eine Sprache ist; dass man sie nur dann lernt, wenn man sie spricht; und dass Fehler nichts schlimmes sind, dass Fehler sogar notwendig sind, um eine Sprache zu lernen.

Kein Empfang.

Es ist so, als hätte ich eine Radiostation, aber keiner macht meinen Sender an. Mittlerweile weiß ich auch, warum. Es ist letztlich ein großes Missverständnis, das sich da anbahnte und aufstaute: denn nach den Erzählungen unserer Vorgänger und nach dem Wissen über das, was bereits in der Schule gelernt wurde, war ich davon ausgegangen, dass zumindest in den höheren Klassen gewisse Vorkenntnisse bestünden. Mittwoch stellte sich heraus, dass in einem ganzen Jahr nur zweimal unterrichtet wurde – es tut mir Leid, Paul, aber ??

Naja, nun weiß ich, dass ich anders an die Kinder herantreten muss und dass ich ihnen womöglich gleich zu Beginn zu viel abverlangt habe. Aber immerhin habe ich nun eine Basis für meinen Unterricht. Nach dieser recht ernüchternen Prognose, durfte ich mit der Schreckensklasse 4to A Sport machen; zum Glück war Profe Judith noch dabei, die tiptop gestylt auf Pfenningabsätzen auf den Campo stapfte, wo sie dann mit den Kindern Aspiracion machte: hinter diesem mystischen Wort verstecken sich Dehnübungen, nach denen man mehrmals laut ausatmet. Dieses Unterrichtselement ist vom nicaraguanischen Schulministerium vorgegeben und man kriegt Probleme, wenn man sich nicht dran hält und die Kinder ihre tägliche Aspiracion verpassen.

Bei der 4to A kann man aber so viel aspirieren, wie man will: die meisten tollen schon auf dem Feld herum, auf dem zu diesem Zeitpunkt auch Kühe weiden. Gerson, - das, was man in Deutschland ein Problemkind nennen würde – ließ es sich nicht nehmen, über den ganzen Campo zu rennen, um allen Kühen am Schwanz zu ziehen. So quirlig und störend er auch manchmal im Unterricht ist, - ich liebe ihn schon jetzt. Gerson wäre jemand für den Film; er ist so unglaublich authentisch, dabei ist er einfach nur arm und ein klein bisschen verhaltensauffällig (das klingt bitter; aber tatsächlich trifft diese Beschreibung auf einige Kinder hier zu. Und es beschämt mich, dass ich ihn authentisch nenne, wenn es doch eine Kombination ist, um die niemand ihn beneiden würde.) Ich spielte also wieder mit den Kindern Zeitfangen und die Kinder gingen ab wie Schmitz Katze; eine Bestätigung für mich, dass ich nun das ganze Jahr über mit ihnen Zeitfangen spielen werde, während ich den Kopf in den Wind halte.

Nein, so nicht. Aber tatsächlich muss man hier manchmal nicht viel machen, um die Kinder zu begeistern. Es ist wirklich anders als in Deutschland. Einzig und allein Gerson blieb völlig unbeeindruckt und sauste nach meinem Unterricht davon.

Der Unterricht mit der 4to A tat gut, obwohl es unglaublich nervenaufreibend war. Dennoch trat ich den Weg nach Hause geradezu beflügelt an, denn: ich hatte Wochenende. Wochenende an einem Mittwoch. Aufgrund der Übungen für den Dia de la Independencia verbringen die älteren Kinder ihren Sportunterricht momentan damit, wie wild zu trommeln und zu marschieren – beides Dinge, die ich nicht kann, und die ich ihnen auch nicht beibringen sollte. Donnerstag würde den ganzen Tag marschiert werden und Freitag fand man sich zusammen, um die Schule vor H1N1 zu beschützen und von oben bis unten zu putzen. Frei für mich.

Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn tatsächlich war ich relativ geschafft nach diesen ersten drei Tagen des Unterrichtens. Ich kam nach Hause, wo Tim sich bereits in der Sonne über unserem Patio fläzte und ich fläzte mich dazu. Um vier Uhr erhielten wir zwei neue Korbstühle und nun haben wir eine wunderbare Chillout-Zone, in der wir abends weitreichende Gespräche führen und die Welt ordnen. Zudem genieße ich seit gestern die unglaubliche Kombination aus Kingsize-Bett und langem Wochenende: eine Kombination, die größtenteils aus Faulenzen besteht, aber ganz wunderbar ist. Unser Leben in Nicaragua könnte nicht gegensätzlicher sein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.