Donnerstag, 17. September 2009

Nicaragua und ich

Als ich mich vor einem Jahr dazu entschloss, dass mein Leben eine unvorhergesehene Wendung einnehmen werde – was man zweifelsohne nicht beschließen kann -, hatte ich ja keine Ahnung.

Ich hatte einfach keine Ahnung.

Heute Nacht lag ich wach und bemerkte beinahe ängstlich, dass ich mich in dieses Land verliebt habe; und wie leichtgläubig ich war, zu denken, dass ich hierher kommen könne, um nach einem Jahr wieder zu gehen. Ich hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass hier mehr geschehen könne als meine Arbeit in einer Schule und ein paar nette Abende mit ein paar netten Leuten. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass man hier Freunde finden kann, dass man sich so schnell integriert, dass man so schnell Teil von einem Land wird, das in beinahe allem fremd ist (gut, es gibt Nutella im Supermarkt).

Ich müsste wahrscheinlich auf der Stelle das Land verlassen, um den schlimmsten Abschied meines Lebens zu verhindern – aber selbst das würde mir nicht helfen. Ich bin angekommen, und ich bin viel zu glücklich, als dass ich desnachts wach liegen könnte, um zu weinen.

Noch nicht mal zwei Monate sind vergangen, seit wir aufbrachen – und schon jetzt ist es, als wäre mein Leben nie anders verlaufen, als wäre es geradezu selbstverständlich, dass ich hier Fuß fasse und mich mit allem, was ich bin, in Matagalpa einpflanze. Bei solchen Gedanken wird mir schwindelig: ich weiß nicht, ob es genau das ist, was man auf einer Seite von einem jungen Menschen erwartet, der kurz davor steht, erwachsen zu werden, dem alten Leben zu entwachsen. Es würde mir tatsächlich nicht gefallen, mein Leben in Nicaragua und die potentielle Entwicklung hier als stereotyp zu verzeichnen. Und doch frag ich mich, ob es gerade allen anderen genau so geht wie mir; den Leuten in Chile, Argentinien und Brasilien.
Die Nicas für ihren Teil haben schon rausgekriegt, dass ich zu viel denke. Diana schüttelt immer nur den Kopf und ich habe Glück, dass Lussi Psychologin ist. (So schlimm ist es auch wieder nicht, aber es tut doch unglaublich gut, mit jemandem zu reden, der beides ist: beste Freundin und Fachmann – und zudem auch noch Mutter).

Natürlich vermisse ich Dinge von zu Hause, aber mir fehlt nichts. Ich vermisse außerdem auch nicht akut. Nur ab und an denke ich daran, wie es zu Hause ist. Aber säße ich jetzt nicht auf meinem Bett in Nicaragua, die Tür zur Straße geöffnet, sondern in meinem Zimmer in Deutschland – ich wüsste gar nicht, was ich dort sollte. Gut, ich müsste nicht erst ins Cafe Latino gehen, um mit dem Rest der Welt in Kontakt zu treten, ich hätte meinen Anschluss da, ich hätte meine Familie um mich.

Aber Nicaragua läge weit weg. Und das ist definitiv mein Problem: denn jetzt, heute, gerade freue ich mich geradezu wahnsinnig, dass ich so weit weg bin. Es ist wie ein Beweis an mich selbst, dass ich nicht in Europa bin, sondern tausende Kilometer entfernt von all dem, was zuvor für neunzehn Jahre mein Leben ausmachte. Und dann denke ich mir, wie bescheuert es ist, dass Nicaragua so weit weg ist, - denn es wird schwierig, wiederzukommen.

Natürlich: es ist nichts dabei, einen Flug zu buchen in dieses Land. Und mit den heutigen Möglichkeiten ist es sogar ganz einfach. Aber es wäre noch einfacher, wenn es Frankreich oder Spanien oder auch Slowenien wäre.

Leider und glücklicherweise ist es Nicaragua, es ist Zentralamerika, es ist zwischen Honduras und Costa Rica – und ich bin mittendrin.

In diesen Tagen findet übelster Magnetismus in mir statt. Und es ist nur allzu gut, dass diese Woche frei ist.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.