Tranquillo.
Das sagen sie hier immer und es bezeichnet eine Lebenseinstellung; eine Lebenseinstellung, die man allzu leicht annektiert. Zu Verabredungen komme ich schon fast immer zu spät, dabei war ich immer jemand, dem Pünktlichkeit etwas sehr Wichtiges war. Wenn ein Glas oder eine Flasche umkippt, dann wartet man bis zum nächsten Morgen, bis es trocken ist.
Tranquillo.
Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt noch lebensfähig bin. Ich meine: ich habe den ganzen Tag so gut wie nichts zu tun, bin allein im Haus - und verpasse trotzdem immer wieder den Moment, an dem die Müllabfuhr kommt.
JEtzt soll man bitte nicht denken, ich lebe hier im Müll oder werde zum Messi. Nein, so ist es nicht. Aber ich habe gerade eine verdammt gute Zeit. Es ist September. Überall auf der Welt ist gerade September - mit dme kleinen Unterschied, dass ich es hier nicht merke. Keine Blätter werden bunt, der Urwald wird nicht plötzlich kahl; es ist warm und ab und an regnet es und manchmal fällt der Strom aus. Dann kreischt die ganze Straße und Kinder laufen mit Kerzen durch die Wohnzimmer und es hat etwas Weihnachtliches an sich. Wenn der Strom dann wieder angeht, fangen wieder alle an zu kreischen und freuen sich.
September. Hier bedeutet das mehr: es ist der Monat der Independencia. Vor 188 Jahren wurde dieses Land offiziell unabhängig - zumindest verkündete es das. Bis zur tatsächlichen Unabhängigkeit war bzw. ist es ein langer Weg für Nicaragua, der womöglich noch immer andauert. Allerdings scheint das diejenigen, die hier leben und nicht aktiv in der Politik beteiligt sind - was so ziemlich der Großteil der Bevölkerung ist, weil es quasi so gut wie unmöglich ist, sich aktiv zu beteiligen, wenn man nicht die richtigen Ansichten hat, - wenig zu interessieren: am 14. September wurde so oder so gefeiert. Und in einer riesigen Parade zogen wir durch die Straßen: Kinder in Uniformen, Kinder in Trachten, riesige Puppen, Stelzenläufer, Lehrer - und Tim und ich.
Zuvor fanden sich etwa tausendfünfhundert MEnschen im Stadion ein, wo ein untersetzter Priester Gott dankte und die Bibel zitierte, wobei ihm so gut wie niemand zuhörte. Es hörte auch niemand dem Abgeordneten der Regierung Ortega zu, der stets wiederholte, wie wichtig die Unabhängigkeit und poder ciudadano (Ortegas Kampagne) seien; immerhin klatschten die anderen wichtigen Personen auf dem Podium jedes Mal, wenn die Worte poder ciudadano fielen - was ziemlich oft war.
Wir standen etwa zwie Stunden auf dem Feld des Stadions, während vor uns ein Festakt abgehalten wurde; Menschen wurden geehrt, Läufer und Läuferinnen - die anscheinend ziemlich flott gewesen waren und wie zum Beweis ihre funkelnden Medaillen der Sonne entgegen hielten.
Ab und an jubelte die Menge.
Zusammen mit Tim hatte ich mich seiner Schule angeschlossen: denn zwar hatte ich die Kinder meiner Schule gesehen, und auch Mary Lou, die sich zur Feier des Tages goldblonde Strähnen in das schwarze Haar hatte flechten lassen - aber sie schien zu beschäftigt, um zu wissen, was sie mit mir anfangen könne.
Also folgte ich meiner Intuition und meiner momentanen Berufsbezeichnung und stand mit Tim, Jose Manuel (seinem Direktor) und ein paar vergnügten Kindern mit Downsyndrom etwa fünfhundert Meter weiter rechts, während die Mädchen meiner Schule anfingen, zu tanzen.
Dass Amistadt eine integrative Schule ist, merkt man sofort, denn obwohl sie mich nicht kannten, nahmen sie mich wirklich auf, als sei ich eine weitere Voluntaria ihrer Schule und schon bald wurde ich in regelmäßigem Abstand von den Kindern umarmt und angestrahlt.
Das, was vor uns auf der Bühne geschah, ging seltsamer Weise an uns vorbei. Gemeinsam mit ein paar wildfremden Jugendlichen stand ich unter einem regenschirm, um mich vor der Sonne zu schützen, die unsere Gehirne in Matsche zerlegen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wem der Regenschirm gehörte.
Wir hörten halbherzig zu und schreckten auf, jedes Mal, wenn eine neue Stimme über den Platz schallte.
Es war nicht unbedingt langweilig - im Grunde genommen war es sogar sehr interessant. Aber irgendwie warteten alle darauf, dass die Kinder endlich anfingen, zu trommeln (immerhin taten sie seit geschätzten sechs Wochen nichts anderes, als sich nachmittags in Formationen auf die Straße zu stellen, um zu marschieren und zu trommeln.)
Dieser Moment sollte auch bald kommen. Zuvor geschah jedoch das wahrscheinlich bedeutendsrte Ereignis in meinem jungen Leben - und mit neunzehn kann man etwas derartiges ja noch behaupten: mit mehr als tausendfünfhundert Jugendlichen legte ich einen Eid ab: Ich schwor, das Land Nicaragua zu beschützen. Ich verpflichtete mich dazu, das Land, die Kultur, die Menschen und ihre Traditionen zu ehren und zu achten.
Als ich Lussi davon erzähle, sagt sie, dass ich die einzige unter all den Personen gewesen bin, die diesen Eid ernst genommen hat. Aber so ist das wohl in Nicaragua: Man denkt an nichts böses und schon steht man mit fremden Menschen unter einem fremden Regenschirm und plötzlich schwört man diesem Land ewige Treue, während die Einheimischen die Finger kreuzen.
Und doch: zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einem Land ein derartiges Versprechen gegeben: ich habe mein Leben, mein jetziges Dasein, einem Land anvertraut; es war, als habe meine Aufgabe ein Siegel bekommen, das meinen Dienst in diesem Land bekräftigte und stärkte. Ich habe mich diesem Land verpflichtet - ich bin nicht länger Freiwillige, ich bin eine Geschworene, ein Freund.
Marschiert wurde im Anschluss. Vom Stadion bis zur Catedral liefen wir und ich hatte mehrere Kinder an den Händen, die mich anstrahlten und vielleicht nicht wirklich den Sinn der Parade verstanden. Aber es war schön. Wir liefern durch unsere Straße, mein Nachbar hatte einiges zu lachen, weil es wohl zu lustig aussah, wie ich inmitten all der Stöpsel drei Köpfe größer aus der Parade ragte (von Tim wollen wir jetzt mal nicht sprechen). Einige Kinder meiner Schule begleiteten uns und winkten und riefen ganz aufgeregt: Profe! Profe!
Also, wenn das nicht glücklich macht.
Den Abend verbrachten wir damit, Tims Geburtstag zu feiern. Tims Pinata - ein Bob Esponja - hat unter den wahnsinnigen Schlägen, die Tim ihm verpasste, sehr gelitten. Arme, BEine und Nase flogen ab, dafür flogen im Anschluss Süßigkeiten durchs Haus; wir waren bis zu diesem Zeitpunkt immer davon ausgegangen, dass die Süßigkeiten, die in der Pinata waren, für das Geburtstagskind bestimmt waren; leider fischten unsere Nicas wie wild die Bonbons auf dem Boden auf und stopften sie in die Taschen. Es dauerte einige Zeit, bis ich Diana davon überzeugen konnte, dass das Snickers für Tim ist.
Die Party ging tatsächlich länger, als wir dachten. Während die Nicas früh gingen, kamen noch Vincente (ein Franzose) und Emmanuel (ein Kellner aus dem Artesanos) und sie fingen an, Gitarre zu spielen und zu singen (wobei unser Franzose der angenehmere von beiden war). U m Mitternacht wurde Tim von zahlreichen Anrufern heimgesucht und schließlich waren nur noch wir vier hier; der Abschluss des Abends bzw. der Nacht nahm seltsame Züge an, an deren Ursprung ich mich nicht mehr erinnern kann, aber aus einem mir unverständlichen Grund spielten wir plötzlich Limbo und hörten Tims Karnevalcd mit tiefgründigen Liedern wie Wer hat mir die Rose auf den Hintern tatowiert? (Eine Sache, an die wir uns noch gewöhnen müssen: geschmacklose Musik mit deutschen Texten so laut hören zu können, dass die Nicas aus dem Bett fallen; und trotzdem werden sie kein Wort, keine Strophe der Höhner oder Black Föös verstehen.)
Das Erwachen am nächsten Tag war böse; aber man ließ mir Zeit und als Tim, Lina und Vivi im Autobus nach San Juan del Sur saßen, saß ich auf der Treppe vor meinem Haus und zählte die Fliegen auf den Fliesen.
Tranquillo.
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