Donnerstag, 8. Oktober 2009
Auf einen Keks mit Mary Lou
Es mag übertrieben klingen, wenn ich derartiges schreibe, - und Lina, Vivi und Tim werden darüber lachen: aber ich war selten so müde, selten so glücklich.
Mein Tagesablauf ist mittlerweile routiniert: vormittags bereite ich meinen Unterricht vor, nachmittags prüfe ich ihn am lebenden Objekt; meistens klappt es. Ich habe angefangen, Kreuzworträtsel für den Englischunterricht zu gestalten und die meisten Kinder verstehen es. Nur ab und an löse ich meine eigenen Rätsel im Unterricht, schreibe die Lösungen an die Tafel - und die Kinder schaffen es trotzdem, die Felder mit spanischen Worten auszufüllen, auch wenn eigentlich englische verlangt werden. Aber egal! Hauptsache, sie sind beschäftigt und nähern sich ein kleines bisschen der Sprache an. Das meint auch Mary Lou, die gestern in meinem Unterricht saß und zugeguckt hat. Sie - genau wie die Kinder - war überrascht, als jedes Kind ein Arbeitsblatt bekam und es auch behalten durfte.
Anschließend rief sie mich in ihr Direktorat, um mir zu verkünden, dass ihr mein Unterricht gefiele, dass sie sich mehr von dieser Art erhofft. Anschließend teilten wir einen ihrer Kekse zusammen. Dieser kulinarische Akt verband uns so sehr miteinander, dass Mary Lou darauf hin anfing, mir ganz schnell ganz viel zu erzählen. Ich nickte mehrmals, nickte nochmal und zum Ende hin hatte sie das Gefühl, dass ich sie verstehe. Immer.
Me entiende perfectamente, - erklärte Mary Lou daraufhin jeder anderen Lehrerin.
Ich verbrachte meine gesamte zweistündige Pause mit Mary Lou. Wir unterhielten uns über alles mögliche, über Deutschland und Nicaragua, über die Schule, über mich, über sie, über alles. Zum Schluss hin fragte Mary Lou mich, ob ich die Bodega kenne.
Ich denke: Öh?! Die lagern Wein hier? Aber nein - eine Bodega ist hier etwas anderes. In der Escuela Wuppertal ist es der Ort, wo alle möglichen Gegenstände gelagert werden, genau so die Essensrationen, die die Kinder nach dem Unterricht mit nach Hause bekommen: Ein bisschen Öl, ein bisschen Mais, ein paar Nüsse. Gegen fünf Uhr verteilt Mary Lou die Rationen an die Kinder und wie eine Mamma nennt sie alle Kinder mi amor und so streng und distanziert ich sie zu Beginn wahrnahm, so fürsorglich und liebenswert sehe ich sie jetzt.
Für den 29. Oktober ist sie - und so ziemlich alle anderen Lehrer der Escuela - bei uns zum Essen eingeladen; und darauf freut sich Mary Lou.
In meinen letzten beiden Stunden war ich zum ersten Mal in den beiden oberen Klassen: dort sitzen Kinder, die keine Kinder mehr sind, sondern 14, 15 Jahre alt sind und sich am liebsten damit beschäftigt zeigen, sich zu langweilen. Ein kleines bisschen motivieren konnte ich sie schon, und gut mitgemacht haben sie auch - und doch denke ich, dass es hier am schwersten wird, sich zu profilieren: uns trennen vielleicht vier Jahre, und doch vieles mehr. Die Schüler dieser Klassen werden nicht auf mich zugerannt kommen, mich umarmen und fröhlig profe, profe rufen; dafür ist es ruhiger, die Lernatmosphäre ist angenehmer.
Nach diesem Tag habe ich nun gänzlich das Gefühl, zur Escuela Publica Wuppertal zu gehören: mit Mary Lou teile ich schwesterlich Kekse, Profe Pedro nennt mich Barbarita und will mit mir im Duo Mandoline spielen, Profe Judith strahlt jedes Mal, wenn sie mich sieht und begrüßt mich mit Küsschen, Mercedes, die Putzfrau und gute Seele der Schule, macht jedes Mal Scherze mit mir (und trug heute ein T-Shirt: SAVE ENERGY - DON'T TALK TO ME) - und das Geheimnis der Bodega kenne ich nun auch.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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