Montag, 5. Oktober 2009
Profe Judith flunkert
Es ist nicht so, dass ich unterfordert bin - aber ich merke doch, dass morgen im Vergleich zu heute anstrengend werden wird; ich muss nämlich für drei Stunden in die Schule; das ist fast mein härtester Arbeitstag.
Die Nicas meinen es wirklich gut mit mir. Könnte man denken. Ich glaube nicht, dass die Stelle überflüssig ist, denn es bringt den Kindern doch etwas, mich ab und an zu sehen, mich zu umarmen oder mich mit Dona Barbara anzureden, um sich anschließend kichernd in eine Ecke zu flüchten; Tim geht jeden Morgen von sieben bis zwölf in die Schule. Und ich? Heute von viertel nach drei bis um vier.
Als ich heute nämlich erschien, alle wie zum Beweis anstrahlte und verkündete: estoy sana, - tja, da war mein Grado schon weg. Nicht, dass sie vor mir fliehen, es ist meine liebste Klasse, und ich sage so etwas selten, aber die stehen voll auf mich. Von der 4to B gab es heute also Liebesentzug, dafür durfte ich mit Profe Judith in die 4to A - den Grado, den ich vor einer Woche noch Horrorklasse nannte. Wir entschlossen uns, auf den Campo zu gehen, und im schönsten Licht stiefelten wir durch das Primero Mayo. Zum Austoben gab es ein Spiel, ein Wettrennen, und ich habe die Kinder selten so motiviert erlebt; in zwei Gruppen mussten sie gegeneinander antreten, und haben sich dabei angefeuert und gelacht und einfach Spaß gehabt. Sogar Profe Judith hüpfte wie wild auf ihren Sandaletten herum, schwenkte aufgeregt das Tuch, mit dem sie sich sonst den Mittagsschweiß von der Stirn tupft, und rief die Namen der Kinder, die allesamt wie Städte in den USA klangen.
Ganz so harmonisch, wie es nun klingt, war es jedoch nicht; denn ein paar der Mädchen hatten offensichtlich keine Lust, wie wild über den Campo zu rennen - und ich kann es ihnen nicht verübeln. Vor ein paar Jahren wäre ich wahrscheinlich eine von ihnen gewesen. Auf jeden Fall beschloss Profe Judith relativ abrupt, das Feld zu räumen und sagte, sie werde sich über die Mädchen beschweren. Es fehle dem Grado an animo de grupo; die Kinder maulten und stapften davon, und während dessen erzählte mir Profe Judith kichernd, dass sie sowieso jetzt aufhören musste, weil es ein internes Lehrertreffen gab.
Die Kinder waren allerdings zufrieden mit dem heutigen Tag - und ich habe wieder was dazugelernt.
Morgen kommt Lussi und wir werden gemeinsam mal sehen, was wir noch tun können für die 4to A. Ein Ausbauen des Projektes würde, glaube ich, der Schule und mir etwas bringen: denn wenn es wirklich möglich wäre, eine Art (Nachmittags-)Betreuung für die Kinder ins Leben zu rufen, dann wäre es ein ganz eigener Schritt, den ich in diesem Land in die Wege geleitet hätte ... so lächerlich es klingt: die Kinder und ich wären beide beschäftigt, und abgelenkt von dem, was uns bedrückt.
Ich weiß, dass ich diese Welt nicht ändern kann, dass ich zu klein und zu allein bin, um an dem Großen und Ganzen etwas zu verändern; für zwölf Monate bin ich aber hier: und in diesen zwölf Monaten kann ich träumen und versuchen, das so weit umzusetzen, wie es möglich ist; das ist meine Aufgabe hier.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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