Sonntag, 1. November 2009

Der erste Rundbrief ...

... ist als kostenloses Feature zu sehen, das die Betroffenen auch noch per Post erreichen wird: Aber im Zeitalter der absoluten Technologisierung will man ja nicht hinten anstehen.

Liebe Freunde,
liebe Familie,
liebe Unterstützer,

es ist Zeit für den ersten Rundbrief, der euch über mein Leben in Zentralamerika informieren soll; - das ist nicht gerade leicht, denn auch wenn wir seit drei Monaten nun schon in Nicaragua weilen, uns unseren Weg in unser neues Leben gebahnt haben und schon beinahe alltäglicher Routine folgen, ist der Status quo noch immer ungewohnt.

Tatsächlich brauchte ich ungefähr einen Monat, um zu verstehen, wo ich mich befinde: die USA im Norden, Südamerika im Süden, Australien und Neu Seeland im Westen, Europa im Osten, Deutschland – sehr weit weg.
Aber meine geographische Ortung war nicht das größte Problem: viel mehr war mir die Kultur, in der ich mich mit einem Male wiederfand, fremd in all ihren Bestandteilen; sei es das Essen, sei es das Klima, sei es die Sprache oder die Tatsache, dass ich nun größtenteils auf mich allein gestellt bin. Zudem stellte ich geradezu verwundert fest, dass meine Entscheidung, nach Nicaragua zu gehen womöglich die erste Entscheidung in meinem Leben war, die ich ganz bewusst für mich allein traf; und Bedeutung und Folgen dieser Entscheidung wurden mir erst vor Ort wahrhaftig verständlich.
Nun bin ich also hier; in Nicaragua, in Matagalpa, in einer Stadt, die zu klein ist, um sich in die enge Talsenke zu fügen und die mit den Jahren die umliegenden Berge hinauf gekrochen ist. Die Straßen der Stadt sind eng, auf dem Weg ins Zentrum muss man sich sein Bisschen Bürgersteig erkämpfen, und kommt dabei ganz selbstverständlich an kleinen Ständen mit Obst und Gemüse vorbei, wo Frauen und Männer sich Luft zu fächern und Kerne auf den Boden spucken.
Jeden Tag lenken mich meine Schritte in die Escuela Publica Wuppertal, wo ich als Lehrerin für Englisch und Sport die maestros und maestras der kleinen Grundschule hinter dem Fluss im Primero Mayo unterstütze. Ich arbeite nachmittags; habe den Vormittag frei und kann somit die Zeit nutzen, um mich auf meinen Unterricht vorbereiten. Wenn ich dann um eins, um zwei oder manchmal auch um drei in die Schule gehe, stürmt zu aller erst ein ganzer Haufen quirliger Kinder auf mich zu und für einen winzigen Moment verliere ich den Boden unter den Füßen, weil sie sich an mich klammern, sie rufen profe, profe und strahlen mich an.



Der Unterricht an der Escuela Publica Wuppertal ist auf den gesamten Tag verteilt; vormittags werden die ganz Kleinen unterrichtet, die Kinder, die hingegen nachmittags in die Schule kommen, sind zwischen neun und fünfzehn Jahren alt, - sie sind nicht weniger dynamisch, und es bleibt beinahe unbemerkt, dass einige von ihnen den Morgen damit verbringen, Tortillas und Quesillos auf den Straßen der Stadt verkaufen und beinahe durch ganz Matagalpa laufen.
Joseline aus der Quarto A ist eines von diesen Kindern: von sechs bis elf, manchmal auch bis zwölf, verkauft sie Enchiladas, die sie in einem großen Korb auf ihrem Kopf balanciert. Ihre Stimme ist kräftig, so als wäre sie mit ihren elf Jahren bereits Kettenraucherin, dabei rührt das Kratzen ihrer Stimme nur daher, dass sie den gesamten Morgen in einem unliebsamen Singsang den Anwohnern ihr Kommen ankündigt.
Wenn ich jedoch die Schule betrete und ihr auf dem breiten Flur – der auch gleichzeitig der Schulhof ist – begegne, begrüßt sie mich mit einem Glitzern in den Augen und einer rührenden Herzlichkeit, als gebe es keine Anstrengung, keinen Morgen, keine Enchiladas.
Von deutschen Schulverhältnissen kann man vielleicht auch deshalb nicht ausgehen; sich vor eine Klasse von fast dreißig Kindern zu stellen ist tatsächlich eine größere Herausforderung, als ich gedacht hatte: wenn es nicht gelingt, Unterhaltung und Unterricht zu kombinieren, sinkt die Aufmerksamkeit der Ninos schnell. Zudem ist die Ausstattung der Schule begrenzt, die meisten Stühle sind ramponiert, die Regale quellen über vor losen Papieren, in der hintersten Ecke steht ein Ventilator, der vergebens für Kühle sorgt.

Wenn ich ein Klassenzimmer betrete, dann richten sich alle Augen auf mich und sehnlichst warten die Kinder nur auf diese beiden Worte: Educacion Fisica.
Sie lieben es; weil man auf den Campo geht, der etwa fünf Minuten entfernt ist und so weit und groß ist, dass er gar nicht zu dem engen, im Reiseführer als klaustrophobisch beschriebenen Matagalpa passen will; weil sie rennen können und der Dunkelheit und Schwüle der Klassenzimmer entfliehen können; weil sie hier ausnahmsweise laut sein dürfen, weil sie schreien und jolen, sich gegenseitig beim Wettrennen anfeuern können, ohne dass ein ermahnender Blick die Kinder straft.
Wenn wir den breiten Campo betreten, ist Joseline eine der ersten, die um die Wette rennen, sie tobt und freut sich wie ein Fisch im Wasser und verlangt nach immer weiteren Spielen. Aber die Gestaltung des Unterrichts ist mir nicht gänzlich überlassen: Im Gegensatz zum Englischunterricht, muss ich hier nämlich zumindest zu Beginn die Vorgaben des nicaraguanischen Schulministeriums befolgen: das bedeutet, dass wir zunächst ein Bisschen aspirieren: in Deutschland würde man es Dehnen nennen, nur dass auf die unterschiedlichen Übungen kurze Phasen des bewussten Einatmens folgen.
Wenn wir diese Prozedur abschließen, folgen kleine Spiele, die die Kinder begeistert übernehmen. Die Motivation und Eigenständigkeit nicaraguanischer Schulkinder im Sportunterricht würde sich wahrscheinlich auch so mancher deutscher Sportlehrer wünschen.



Steht Ingles auf dem Stundenplan, ist die Vorfreude der Kinder verhaltener, - und ich kann es verstehen: die Aussprache zum Beispiel ist eine Hürde, mit der ich vor meiner Ankunft nicht gerechnet habe. Zudem finden sich recht schnell ganz eigene Schreibweisen der Früchte, Zahlen und Wochentage in den Quadernos der Kinder ein und manche sind so abenteuerlich, dass ich verstehe, dass noch viel Arbeit auf uns wartet, bis wir wirklich von richtigem Englischunterricht sprechen können; bislang begnüge ich mich damit, Spiele zu spielen oder Früchte zu basteln, die wir anschließend in den Klassenräumen nebst englischen Namen aufhängen. Der Erfolg meiner Arbeit ist begrenzt: seit einem Monat lernen wir nun schon Früchte und Gemüse auf Englisch und die wenigsten erinnern sich; Joseline hingegen ist eine von wenigen, die scheinbar auch zu Hause in ihre Aufzeichnungen gucken. Sie erinnert sich nicht an alle Namen, und doch kann sie bei Activity oder Kreuzworträtseln ihre Mitschüler beeindrucken.
Kinder wie Joseline lassen mich in diesen Momenten immer noch hoffen – und doch habe ich schon längst verstanden, dass Sinn und Zweck meiner Arbeit andere sind, als in der kurzen Beschreibung, die ich im Januar bei der Projektauswahl der EKIR las: in erster Linie bin ich hier, um da zu sein. Ich bin ein Zeichen, jemand, an den sich die Kinder ganz selbstverständlich schmiegen können; nicht ganz Autoritätsperson (und das macht mir manchmal zu schaffen), nicht ganz eine von ihnen; eine Vertraute und doch ein bisschen mehr. Ich erhalte kleine Briefe von Schülerinnen, die mir schreiben, dass ich ihnen eine Schwester bin, dass sie mich sehr gerne haben und dass sie sich wünschen, dass ich nicht wieder gehe; erst jetzt sehe ich die Grausamkeit, die die Begrenzung eines Jahres mit sich bringt: bereits nach drei Monaten haben sich Kinder wie Joseline, Brenda, Rosalinda, Kareila oder Bismark – ja, er heißt wirklich so, und er ist fest davon überzeugt, dass es sich um einen nicaraguanischen Namen handelt – an mich gewöhnt. Sie streichen mir übers Haar und klammern sich an mich, streiten um meine Hand, wenn wir zum Campo aufbrechen, und kaufen mir kleine Erfrischungsgetränke auf dem Weg dorthin. Nur selten sprechen sie von meinem Vorgänger und wenn, dann ist es beiläufig, ein Teil der Vergangenheit.
In diesen Momenten muss ich selbst ein bisschen zusammenzucken, denn ich weiß, dass es in einem Jahr womöglich nicht anders sein wird. Und doch habe ich noch neun weitere Monate vor mir, in denen diese Kinder mich herausfordern, in denen sie mir in gleichem Maße ans Herz wachsen werden.

Ich sehe die Unterschiede, die ein Land wie Nicaragua bewirkt; ich sehe Joselines Leben und erinnere mich an meine Kindheit, in der die meiste Zeit Sommer war und ich ein Eis in den kleinen Händen hielt; ich weiß, dass mit ein wenig Glück ein paar englische Begriffe in den Köpfen meiner Schüler hängen bleiben, ich weiß genau so, dass ich nur vordergründig hier bin, um zu unterrichten; meine Fächer sind mein Sprungbrett, die Hand, die ich den Kindern reiche, und die sie ohne Zögern annehmen, um mich zu einem Teil ihres Lebens werden zu lassen.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.