Dienstag, 3. November 2009
Hupen und Sägen
Ja.
Aha.
Oha.
Ein Schreibtisch. Das ist neu. Noch keine 24 Stunden ist er alt, und dafür integriert er sich ausgesprochen gut in die andächtige Komposition aus zusammen gewürfelten Möbeln, die in all ihrer Individualität das totum meines materiellen Daseins ausmacht: ein Schreibtisch also. Den haben wir gestern gebaut und die Nicas guckten nicht schlecht, als man nur noch wüstes Gehämmere aus unserem Haus hörte - das hallte richtig schön, denn wir haben große Räume plus Fliesen. Wahnsinn.
Hämmern oder generell jede Form von eigenständigem Heimwerkern stört hier niemanden, zumindest dürfte es bei dem alltäglichen Lärmpegel, dem unsere zarten europäischen Ohren hilflos ausgesetzt sind, niemanden stören: die Nicas können ja selber nicht leise.
Ich würde sehr gerne ein paar Herrschaften vom deutschen Ministerium für Umwelt oder für Verkehr einladen und ihnen meine Straße zeigen. Wahrscheinlich würde man recht schnell darin übereinkommen, dass eine Schallmauer notwendig sei, die man anschließend in einem Abstand von 10 Zentimetern zu unserem Haus anbringen würde. So wie auf der A 40 von Bochum nach Essen.
Rückwirkend würde ich gerne ein paar Nicas auf die A 40 einladen. Die könnten sich wahrscheinlich gar nicht mehr halten bei dem lächerlichen Anblick einer schäbigen Plastikwand, die den Lärm abhalten soll, während ein paar Omis unglücklich aus den oberen Stockwerken schräg bemalter Häuser gucken.
Eine Höchstgeschwindigkeit scheint es in Nicaragua nicht zu geben, dafür wird keine Gelegenheit ausgelassen, sich an eben diesen Zustand zu erinnern. Auf unserer Straße ist das anders: es ist ein bisschen eng und richtig aufs Gas treten kann man nur, wenn gerade ausnahmsweise keine fröhlich schnackende Großfamilie zum Friedhof marschiert; und trotzdem ist es so laut wie auf der A 40. Das muss man erstmal hinkriegen.
Generell gilt in Nicaragua: Das ausreichende Wissen um das Betätigen einer Hupe genehmigt die uneingeschränkte Teilnahme am Straßenverkehr in einem motorbetriebenen Vehikel. Der Rest ist ja eh nur Lenken und ein bisschen Pedalschaltung. Leichter zu bedienen sind da nur noch Nähmaschinen, aber mit denen kommt man schlecht von A nach B.
Kurzum: nähert der Nicaraguaner sich einer Kreuzung, wird erstmal so richtig gehupt. Achtung, hier komm ich. Rechts vor Links ist Amiquatsch. Denn jeder weiß: Bremsen macht keinen Spaß, erst recht nicht, wenn man einen Pickup fährt, dessen Ladefläche gefüllt mit schönen (mas o menos) Frauen ist, die von dem Auf und Ab der nicaraguanischen Straßen und des eigenen Fahrstils so richtig durchgeschüttelt werden. Man will ja zeigen, was man kann.
Oder was man eben nicht kann.
Manchmal ist es in Nicaragua das selbe.
Beenden wir nun unseren kleinen Exkurs in das nicaraguanische Verkehrswesen, das sich nun mal eben dadurch auszeichnet, dass es nicht existiert.
Und kehren wir zurück zu dem Verlauf des gestrigen Nachmittags:
Gestern war Feiertag.
Also, das, was Feiertag hier bedeutet: man tut so, als sei frei, aber in Wirklichkeit sind alle Läden offen und die Nicas nutzen den Feiertag in christlich-katholischer Tradition, um mal so richtig auf die Pauke zu hauen. Viel los auf den Straßen, Stau vor den Ampeln, emsiger Betrieb in allen möglichen Klamottenläden ... so sieht ein Feiertag in Nicaragua aus. Und das ist dann egal, ob es ein nationaler Feiertag oder ob es die verlängerte Form von Allerheiligen ist.
Tim, Vivi und ich setzten die Tradition der letzten Tage fort und sahen uns selbst beim Schimmeln zu.
Na, ganz so arg schlim war es auch nicht. Aber es tut manchmal gut, nichts zu tun.
Den gesamten Vormittag verbrachten wir also im ähnlichen Zustand einer stark gewässerten Zimmerpflanze hinter gerippten Stoffgardinen; man kriegt nicht viel vom Leben mit, aber in seinem eigenen Topf fühlt man sich wohl.
Mittags bildeten wir uns ein, dass man an einem solchen Tag zumindest einmal das Haus verlassen müsse und wir kauften Kartoffeln. Danach kamen wir beim Holzhändler vorbei und Vivi und ich kauften kurzerhand ein bisschen Holz für einen Tisch.
Zuhause angekommen stellten wir fest, dass unsere Säge noch bei Vivi und Lina war. Lange Rede, kurzer Sinn: der größte Spaß an diesem Tag war der Heimweg samt Säge: man fixierte mich, Männer sahen mir hinterher, staunten, Autos hielten an ... aber gesagt wurde nichts. Kein tss tsss, adios amor. Nada.
Allein eine schicke Omi begegnete mir und lächelte mich vielsagend an, als erinnerte sie die Säge in meinen Händen an einen ihrer verflossenen Liebhaber und sein trauriges Ende. Sie war die einzige, die mir an diesem Tag ein bewunderndes adiooos zuraunte - und sie war die einzige, die das auch durfte.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen