Sonntag, 1. November 2009
Ein bisschen Sehnsucht
Ein paar Minuten später hat sich der Gefühlssturm gelegt und dann geht man eben nochmal in die Stadt oder zur Pulperia an der Ecke oder sonst wohin.
Für den gestrigen Abend musste ich nicht einkaufen; denn Vivi und ich beschlossen, zur Feier des Tages - einen gelungenen Ausflug nach Jionetag* muss man schließlich richtig feiern - in die Pizzeria zu gehen.
Dort bestellten wir Pasta mit Pilzen und Spinatravioli. Wir bestellten kein Fleisch und bekamen es gratis dazu, was Vivis Nudelvergnügen zu einer Schatzsuche werden ließ und schließlich trösteten wir uns mit kaltem Hund und Tiramisu, das eigentlich eher den Namen Schaummus verdient hätte. Aber wir wollen mal nicht so sein. Generell bezweifle ich, dass mehr als die Hälfte der Gäste des La vida e bella wissen, wo Italien liegt - da hilft auch nicht die Italienkarte im Eingang.
Egal. Wir saßen also da und bevor wir uns die Zeit mit Nichtstun und Regenlauschen vertrieben, las ich aus einem Geburtstagsgeschenk vor: ein Buch, das mir mein hauseigener Industriearchäologe ans Herz legte. Eine Deutschlandreise. Nicht von Heine, sondern von Jan Weiler, nicht weniger amüsant - und gut genug, um uns Sehnsucht empfinden zu lassen.
Während wir noch auf unsere Pasta warteten, las ich den entsprechenden Artikel über Saarbrücken vor: und beim Klang des St. Johanner Marktes, beim Gedanken an die Saar und an das Staatstheater, beim Erwähnen des Saarbrücker Schlosses und des unsichtbares Mahnmals ... bei all diesen Dingen wurden wir ganz traurig.
Jeder von uns dachte an etwas anderes, - Vivi an ihre Lieblingskneipe Tante Anna, ich an den Stiefel, gemeinsam dachten wir an die Kartoffel, an Zweitausendeins, an kleine versteckte Gässchen, an Karstadt und an die Bäckerei, in der wir vor einem Jahr noch Knabberspaß für die Rückfahrt vom Saarland nach Bochum kauften.
Ich dachte an den Geruch von frisch gekochten Salzkartoffeln, an den Vanillepudding mit Mandeln, den meine Großmutter oft machte, an Bischmisheim und wenig später wieder an die Petersilie auf den blassgelben Kartoffeln, die wir zum Schluss immer darauf legten.
Deutsches Sonntagsessen. Ich sterbe dafür. Und für ein bisschen Kälte, die nicht aus der Klimaanlage des Cafe Latinos kommt, würde ich auch sehr viel geben. Wir haben Totensonntag - und die Sonne scheint, ich laufe im T-Shirt durch die Stadt. Wahrscheinlich werde ich das das ganze Jahr schreiben und meine Ungläubigkeit würde sich nicht legen. Oh Mann, Leute.
Deutschland, - wisst ihr eigentlich, wie gut ihr's gerade habt, dass ihr euch das Saarland einfach so angucken könnt? Dass ihr da hin fahren könnt? Oder an die Ostsee, an die Nordsee ... ihr könnt am Wochenende dick verpackt den Herbst bestaunen.
Ich weiß, dass ich nicht an der Reihe bin, um zu klagen oder um das zu beneiden, was ich neunzehn Jahre lang hatte - aber gerade wird es doch sehr schwer, wenn Vivi und ich den Weiler lesen und zu beinahe jeder deutschen Stadt etwas in diesem Buch steht. Und dann zu Saarbrücken. Ach, Leute. Wenn Vivi und ich wiederkommen, machen wir erstmal ne Saarlandtour, das haben wir uns jetzt schon geschworen.
Zu seltsamen Gelübden treibt uns die Distanz; vermutlich würde ein deutscher Bundesbürger sich nie einfach so auf eine Saarlandreise einlassen, sich dazu verschwören. Aber das passiert, wenn die Entfernung und die merkwürdigsten Gefühle den Geist vernebeln: man merkt mit einem Male, was das ist, Deutschland, und wo man hinwill.
In dem Sinne war das eine ganz vortreffliche Idee, dieses Buch zu kaufen. Auch wenn der Artikel über Bochum relativ negativ ausfällt - er beginnt zwar mit dem Bergbaumuseum, was zugegeben, kein schlechter Anfang ist, aber leider endet er mit schlechtem Wetter und der nicht ausgesprochenen Unterstellung, dass Bochum langweilig sei. Vielleicht schreiben wir ja noch einen Leserbrief.
*Nachtrag: Dort gab es nicht nur die größten Eiskugeln ganz Zentralamerikas, sondern auch ein Pizzamobil. Wahrscheinlich ist Jinotega das Düsseldorf Nicaraguas: dort leben die zufriedensten Menschen.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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