Sonntag, 1. November 2009

Engel auf der Straße

Die Heiligkeit dieses Landes erreicht ungeahnte Dimensionen; so viel unerwartete Göttlichkeit begegnet uns hier, in Nicaragua, dass man sich schon fragen muss, ob wir auf dem Weg nach Zentralamerika falsch abgebogen sind, und schließlich im Paradies landeten. Gut, zugegeben, ein Paradies aus Wellblechdächern und Fleischresten, die kokelnd und schmohrend auf jedem größeren Markt hängen und auch hier: ungeahnte Dimensionen, denn ab und an sehen wir uns den traurigen Augen einer toten Kuh gegenüber und fragen uns - Vegetarier hin oder her -, wer eigentlich Kuhkopf essen will bzw. was man da noch essen kann.

Nun ja. Ein Paradies ist Nicaragua wahrscheinlich sowieso nur für Menschen, die genügend Geld haben: wobei jedes Land für jemanden mit genügend Geld zum Paradies wird. Hinzu kommt nur, dass dieses tropische Flair des nicaraguanischen Dschungels einiges dazu beiträgt, sich hier wohl zu fühlen.

Genug gesponnen: Während Tim, Lina, Philipp, Selina und die vier Spanierinnen aus Barcelona - die wir einfach mal so kennen lernten, so, wie man jeden hier einfach mal so kennen lernt und dann plötzlich mit ihm / ihr in Urlaub fährt - in San Juan del Sur Schildkröten beobachten (und die brauchen bekanntlich immer etwas länger), blieben Vivi und ich in Matagalpa; allerdings nur für die Nacht, denn auch uns packte am gestrigen Tag das Reisefieber und wir fuhren nach ... tada: Jinotega.

Wahnsinn, denkt der Europäer. Jintoega klingt so richtig nach Dschungel und Bananen.
Merkwürdig, denkt der Nicaraguaner, denn wer einen Samstag in Jinotega verbringt, muss schon ordentlich einen an der Waffel haben; denn normalerweise fährt man an einem Samstagmorgen von Jinotega nach Matagalpa, um was zu erleben. Wir machten es andersrum und fühlten uns ziemlich alternativ.
Aber schon im Bus, als wir von den umliegenden Bergen auf das erheblich kleinere Jinotega blickten, erfasste uns ein merkwürdiges Gefühl: eine Stadt, sanft in den schmalen Talkessel umzingelnder Berge eingefügt, grüne Wälder zu allen Seiten, eine weiße Kirche mit zwei Türmen - das sieht ja aus wie Matagalpa.

Ein bisschen zwiegespalten verließen wir den Bus, unsere Mitreisenden verschwanden zielstrebig in alle Richtungen. Planlos standen wir auf dem großen Busbahnhof in Jinotega, von dem anscheinend nur ein Bus abfährt: der Bus nach Matagalpa.
Unschlüssig, was wir tun sollten, taten wir zunächst das, was uns am logischsten erschien: wir ärgerten uns ein bisschen. Denn alle unsere Reiseführer waren zu diesem Zeitpunkt in San Juan del sur, wobei es ein Reiseführer für die Truppe unserer Ersatzfamilie ja auch getan hätte. Das dachten wir uns zumindest. Während also unsere Freunde nun scheinbar ALLES über San Juan del Sur wussten, wussten Vivi und ich nichts über Jinotega. Und es schien auch nichts Wissenswertes über diese Stadt zu geben.

Aber gut.
Wir erkundeten uns, wann die Busse wieder abfahren, und beschlossen, zumindest ein kleines Bisschen dieser Stadt zu besichtigen. Wir fragten eine Senora - die ungefähr genau so verloren war, wie wir - ob es hier einen Markt gebe, denn immerhin hatte ich einmal gehört, dass es hier einen großen, schönen Markt gebe. Sie beschrieb uns wild fuchtelnd den Weg, wir bedankten uns und folgten der Richtung, in die ihre Ärmchen zuletzt gezeigt hatten, - und staunten.

Denn diesem kleinen Städtchen gelang etwas, logisch betrachtet, unmögliches: es war kleiner als Matagalpa, und wirkte doch größer. Die Straßen in Jinotega sind breit und ausladend, genau so die Bürgersteige - Herrgott, die haben wirklich Bürgersteige. Zudem ist es in Jinotega ruhig, es ist fast totenstill. Autos fahren bedächtig, Verkäufer preisen flüsternd ihre Waren an, als bestehe ein im Stillen getroffenes Übereinkommen, dass die ganze Stadt stille Post spielt.

Schon nach fünf Minuten äußerte Vivi folgende Empfindung: Hier ist es schöner als in Matagalpa. Ich mag Jinotega.
Das dachte ich mir auch; wir kamen an einem Park vorbei, in dem ein riesiger Baum stand; ein Baum, der so groß war, das man noch nicht mal auf den matagalpinischen Bergen einen Platz für ihn finden würde. Wir liefen weiter und kamen an einer Kirche vorbei, am Straßenrand stand ein Engel und hob mit einem wissenden Lächeln die Hand. Andächtig schritten Vivi und ich an ihm vorbei, während der Rest der Bevölkerung Jinotegas ihm vertraut eine Hand auf den Sockel legte.

Im Laufe des Tages stellte sich für uns mehrmals heraus, dass zwischen Matagalpa und Jinotega mehr als die Grenze zweier Regierungsbezirke liegt: wir waren weit und breit die einzigen Ausländer. Auf dem Markt, den wir tatsächlich fanden, und der wirklich groß war, wurde uns ungläubig hinter her gesehen, wenn wir etwas kauften, wurde automatisch für uns runtergehandelt und als wir schließlich auf einem großen, weiten Spielplatz auf den Schaukeln baumelten, kamen mehrere Menschen vorbei, die mit uns ihr Englisch verbessern wollten.

Zugegeben: An einem Samstag von Matagalpa nach Jinotega zu fahren, ist wie zum Shoppen von Bochum ins Ennepetal zu fahren: da ist auch nicht unbedingt mehr, wenn man von mehr Kühen, mehr Wiesen und mehr Freiraum für den Großstadtgeist absieht.
Einen solchen Trip habe ich in meiner Heimatstadt noch nie gemacht - aber vielleicht, ja, vielleicht sollte ich es wagen, wenn ich wiederkomme.

Immer wieder, wenn wir an diesem Tag die Straßen entlang liefen, staunten wir über den Platz. Wir konnten sogar auf den Straßen laufen, ohne überfahren zu werden. Es wurde noch nicht einmal gehupt - liegt wahrscheinlich an dem stillen-Post-Spiel der Stadt. Heute ist Totensonntag und in Matagalpa ist alles geschlossen: man mag sich fragen, ob sich in Jinotega überhaupt der Wind rührt.

Wir blieben drei Stunden in dieser Stadt, die uns auf zweiten Anhieb sofort - Achtung Oxymoron - sympathisch war. Auf der Rückfahrt nach Matagalpa empfanden wir einen merkwürdigen Gefühlscocktail aus Heimkehrerfreude und sehnlicher Erinnerung an einen Ort, an dem die Straßen etwas breiter, die Menschen etwas ruhiger und die Luft ein bisschen besser war.

Und letztlich widerfuhr uns in Jinotega etwas, was uns in Matagalpa noch nie geschehen ist: man fragte uns nach dem Weg, man hielt uns für Ortskundige, vielleicht sogar für Einheimische, für halbe Nicas. Und wer fragte uns? Eine Nicafrau. Das ist ein ganz schön bedeutendes Gefühl. Das ist, als ob ein Rheinländer einen Westfalen in Köln nach dem Dom fragt. Und das will schon was heißen.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.