Freitag, 30. Oktober 2009
San Antonio kommt günstig
Geht man an einer dieser Kirchen während eines Gottesdienstes vorbei, könnte man genau so denken, es finde ein Gemeindefest statt: Gott gibt eine Party. Und alle feiern mit. Sie schwingen die Hüften, klatschen begeistert in die Hände, umarmen ihren Nächsten, ob sie ihn nun kennen oder nicht. Ihre Sorgen stehen vor der Tür und sind für diesen Moment unwichtig, vergessen.
So locker die Gottesdienste und Beerdigungen sind, so tief ist doch der Glaube verwurzelt. Es ist nicht meine Aufgabe, Beobachtungen und Mutmaßungen über die Religion anderer Menschen in fremden Kulturkreisen zu treffen, und doch muss ich es sagen: dass dieser Glaube, dem die Menschen folgen, mehr ist als die Religion, die wir im christlichen Europa kennen: in Wohnzimmern hängen kitschige Bilder leidender Söhne Gottes, die zum Himmel hinauf sehen. Darunter steht meist ein Bibelspruch. Kruzifixe und Rosen, Dornenkronen etliche Heilige finden sich daneben - wobei die Rosen meistens blutrot sind, aber vielleicht genau so die harmlose Verbindung von Glaube und Botanik darstellen.
Beinahe in jedem nicaraguanischen Wohnzimmer sieht Jesus qualvoll zur Zimmerdecke; und es ist eine merkwürdige Mischung aus einer lockeren asi-es-la-vida-Einstellung und einem beinahe fanatisch anmaßendem Aberglauben.
Doch Nicaragua ist auch ein praktisches Land; ein Land, das zwischen urvölkerlichen Traditionen, der Abwandlung des europäischen Christentums und der Neuorientierung an westlichen - in diesem Fall nördlichen, denn die USA sind über uns - Werten pendelt. Konkret bedeutet das, dass ich mich im Supermarkt zwischen Jesus, der Jungfrau von Guadelupe und dem heiligen Antonio entscheiden muss.
Warum? Weil ich Kerzen kaufen will. Kerzen, für den Fall eines Stromausfalls - der immer häufiger kommt -, Kerzen, weil es abends gemütlicher ist, Kerzen, weil ja bald der Winter kommt - zumindest das, was Nicas Winter nennen: und von der lässigsten Untertreibung bis zu den schlimmsten Ausmalungen habe ich schon alles gehört. Schlauer geworden bin ich nicht, und doch weiß ich seit meinem Erstehilfekurs, was man für einen Notfall braucht: rotweißes Absteckband, eine Warnweste, ein Warndreieck, die fünf Ws - wer, wo, was, wie, wann -, und, ja, vielleicht ja auch Kerzen.
Ich stehe also ratlos vor dem Regal im Supermarkt und betrachte die langen weißen Kerzen, die bei uns weihnachtlichen Charakter haben und immer auf dem Baum brennen. Hier kriegt man sogar einen Heiligen dazu bzw. seinen Segen und das kann in einem Notfall ja auch nicht schlecht sein; allerdings machen es mir die Nicas nicht leicht: von Jesus gibt es ein schönes Bild auf der Verpackung, mittlere Preisklasse, - und hey, es ist Jesus.
Die Jungfrau von Guadelupe hingegen ist vergleichsweise teuer, dafür wird sie von ein paar Engeln begleitet und wäre somit die Auster unter den Muscheln.
San Antonio hat wohl irgendetwas gemacht - oder eben nicht gemacht -, denn die Nicas haben ihm noch nicht einmal ein Bild mit auf seine Reise in die nicaraguanischen Wohnzimmer oder Kirchenhallen gegeben: eine miese braune Pappverpackung, auf der in großen Lettern SAN ANTONIO steht. Ein Heiliger ohne Gesicht also, dafür im Vergleich das absolute Schnäppchen.
Ich entschließe mich, dass ich auch zuvor ohne Engel leben konnte und habe Mitleid mit Antonio. Ein bisschen eingeschnappt wirkt die Jungfrau von Guadelupe nun schon, und mit dem Blick gen Himmel ignoriert sie mich, um sich weiterhin von Engeln umgeben zu lassen. Jesus hat ein wenig mehr Verständnis und hält weiterhin die rechte Hand, als könne er sich nicht entscheiden, ob er mir winken oder ob er sich nachdenklich in rodin'scher Denkpose ans bärtige Kinn fassen.
Antonio wandert gesichtslos in meinen Einkaufskorb neben Joghurt und Zahnpasta und gemeinsam treten wir den Heimweg an.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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