Freitag, 30. Oktober 2009
In der Zwickmühle
Und dann kommt ab und an die Wirklichkeit vorbei und erinnert uns, dass wir nie Nicas sein werden, dass wir immer Europäer, immer anders sein werden, - und dass es mehr als einen Unterschied zwischen Deutschland und Nicaragua gibt.
Vor zwanzig Minuten stand Profe Angela vor meiner Tür, die Klassenlehrerin der 4to B und eine Person, die mir etwas verschlossen begegnet, seit ich ihr zu Beginn des Jahres erklären musste, dass ich ihr kein Geld leihen könnte, weil ich keines bei mir habe; es war noch nicht einmal gelogen: ich nehme wirklich kein Geld mit in die Schule. Für den Weg dorthin benötige ich kein Taxi, zudem will ich nicht, dass meine Schüler sehen, wie ich 10 Cordoba für diesen Weg ausgebe. Angela wollte nur Brot kaufen, aber sie traute sich nicht, mich nach Geld zu fragen. Also schrieb sie mir einen Brief: Barbara, ich will Brot kaufen, leih mir Geld!
Das ist ein äußerst normaler Ton im nicaraguanischen Umgang mit anderen. Por favor oder ein einfacher Konjunktiv existieren zwar im Spanischen, spiegel jedoch eher das europäische Wunschdenken einer naserümpfenden Gesellschaft wider, die mehr Wert auf Formalitäten als auf tatsächliche Taten legt. Manchmal scheint es, die Nicas hier haben einfach nicht die Zeit, nach europäischen Vorstellungen höflich zu sein.
Und so stand Profe Angela auch eben vor meiner Tür: Sie brauche Geld, weil eine Verwandte im Krankenhaus liege, sie habe einen Unfall und deswegen sei sie, Angela, auch nicht zu meiner Einladung gekommen, wegen eben diesem Unfall. Und sie wolle, dass ich ihr 200 Cordoba leihe.
Gut.
200 Cordoba sind zehn Dollar, also ungefähr 7 Euro. Das wäre in Deutschland die Praxisgebühr. Man könnte jetzt sagen: ach, was, von wegen Zwickmühle. Raus mit dem Geld, die gute Frau braucht es ja. Aber es geht bei diesem kleinen Gefallen um weitaus mehr: es geht um das Bild, das wir von uns weitergeben. Wir sind nicht gekommen, um Geld zu verleihen, sondern um zu unterrichten. Aber natürlich wissen alle, dass wir nebenher auch noch dicke Brieftaschen haben - denn durch den günstigen Kurs des Euro hätten wir uns beinahe in Managua ein Auto kaufen können, und zwar ein neues. Für umgerechnet 7000 Euro.
Hätte, könnte, wollte, sollte - was wird von mir erwartet?
Ich habe Angela das Geld gegeben. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass es mir gefallen würde, das Geld wieder zu bekommen. Sie sprach von leihen. Barbara, leih mir Geld, ich will, dass du mir Geld leihst. Sie meint es nicht so drastisch, wie es in der Übersetzung klingt. Wir sind darüber eingekommen, dass ich nächsten Freitag 200 Cordoba in den Händen halte. Ich weiß, dass ich mich nicht zu sehr von derartigen Ereignissen einnehmen lassen darf: aber für den Moment verfliegt die Euphorie, die ich für Mary Lou, Gottes Prinzessin, und für Norma und für alle kleinen Kinder meiner Schule empfand - und ich werde daran erinnert, wer ich bin: Eine Chela, eine Gringa, in Nicaragua.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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