Freitag, 8. Januar 2010

Jazzman und alte Freunde

Wir sind in San Jose, - vollstaendig. Zumindest in unserer kleinen Gruppe. Und bevor wir usn ein Hostel suchen, gehen wir lieber zu alten Freunden: gegen sechs rufen wir Tobi an, der sofort seine Spanischstunde absagt. Um sieben stehen wir vor seinem Haus, er zeigt uns sein Wohnzimmer, seine Kueche, seine Veranda, sein Zimmer - und wir lachen.

350 Dollar zahlt er im Monat fuer das Zimmer, Internet und Fruehstueck. Dafuer lebt er gut, sehr gut. Wir muessen an Selinas Zimmer denken, in dem sich der Boden wellt, oder an Tims Deckenplatten, die sich ganz individuell bewegen, wenn eine Katze uebers Dach geht. Oder an unsere Dusche im Freien, die man sich ab und an mit Regenwuermern teilen muss, von der man aber auch am Abend Feuerwerke ansehen kann.

Waehrend wir noch unseren kleinen Kulturschock verdauen, schafft Tobi Matratzen in sein Zimmer, Sofakissen und Decken. Dann rufen wir Lukas an und eine halbe Stunde spaeter sitzen wir im Bus ins Zentrum. San Jose liegt in einem sanften Tal, von ueberall kann man Berge sehen, und in der Nacht sehen die zahlreichen Haeuser, die die Berge hinaufklettern, aus wie eine Sternensammlung. Das hat San Jose mit Matagalpa gemeinsam, - aber auch nur das.

Den Abend verbringen wir mit Dreiliterbiertuermen, die hier auf jedem Tisch stehen und die meisten Maenner haben strahlende, glaenzende Augen. Wenig spaeter gehen wir noch in einen Jazzclub, wir koennen alle Strecken hier laufen, zu Fuss. In Managua waeren wir schon fuenf Mal gestorben.
Der Jazzclub ist eine super Idee, die Musik ist live und machtguet Laune, das Publikum ist entspannt, singt und filmt mit, wir sitzen in einer Ecke, unterhalten uns und geniessen den Abend.

Um Mitternacht macht der Club zu; Tobi, Tim, Selina und ich nehmen ein Taxi. Lukas verkuendet, dass er jetzt nach Hause laeuft, - eine halbe Stunde.
Und ich staune ueber dieses Land, in dem das alles moeglich ist, uns das doch so nah an Nicaragua liegt.
Einerseits sah ich hier zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder Milkaschokolade in den Supermarktregalen. Ich stand Angesicht zu Angesicht mit einer Schwartau Schokomixcreme, und ich hielt ihrem Blick nicht Stand. San Jose fasziniert uns mit seinen Strassen, mit den Haeusern, die genau so in Stiepel, Pasing oder sonstwo stehen koennten. Die Leute hier sind richtig schwerreich, sie fahren dicke Autos.

Aber ich bin mit einem Male so froh, in Nicaragua stationiert zu sein; Armut ist nichts, womit man angeben kann oder sollte. Aber als wir am naechsten Morgen im Bus ins Zentrum sitzen und eine Studentin vor mir sich in Brighton-Englisch unterhaelt, dabei ihre Naegel manikuert und die Menschen um sich herum missbilligend ansieht, da bin ich froh, zu wissen, was das wirklich ist, Armut. Ich habe es gesehen, ich werde es womoeglich nicht verstehen, was es bedeutet, um einen Cordoba oder sogar um fuenf Colones zu betteln - aber irgendwie bin ich beinahe pikiert beim Anblick des Reichtums, bei diesem offensichtlichen Praesentieren von dem, was man hat.


Ich kenne die Studentin vor mir nicht. Vielleicht ist sie in der Entwicklungshilfe, vielleicht studiert sie aber auch Mediendesign, vielleicht ist sie auch Aupairmaedchen bei reichen Ticos. Aber fuer einen Moment werde ich beinahe wuetend bei dem Gedanken, dass sie eines Tages vielleicht erzaehlen wird, sie kenne Zentralamerika und seine Probleme, sie kenne die Armut und wisse, was es bedeutet, in einer zugigen Wellblechhuette zu leben, wenn sie doch nur San Jose und seine reichen Viertel kennt.

Ich weiss, dass mein Urteil nicht fair ist, ich weiss, dass es auch in San Jose Armut gibt, Strassenkinder, die um Geld betteln, Kinder, die in Kisten leben, Maenner, die Papierkoerbe untersuchen muessen, nicht, weil sie wollen, sondern weil sie nicht anders koennen, Frauen, die mit sich selbst Handel treiben, weil sie nichts anderes haben, was jemand anderes haben wollte.
San Jose ist eine Hauptstadt, eine zentralamerikanische Hauptstadt wie jede andere auch. Und doch: der Reichtum, der hier direkter Anwohner ist und die Armut ueberschattet, verschwinden laesst in den Augen der Touristen, dieser Reichtum wird mir mit einem Male zu viel.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.