Dienstag, 2. Februar 2010

Der 2. Rundbrief

Nicaragua, Land der Seen und Vulkane.
Nicaragua, zweitärmstes Land Lateinamerikas, gleich nach Haiti.

Gegensätzlicher könnte das Bild, das Nicaragua entwirft, nicht sein. In Reiseführern wird die natürliche Schönheit des Landes gepriesen, es wird geschwärmt von diesem – verhältnismäßig - unentdeckten Land, in dem mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung die tägliche Mahlzeit über einem offenen Feuer kocht. Das sagt die Statistik und irgendwie klingt es faszinierend, - eine Welt, die es nicht mehr gibt bzw. die wir im Westen einfach nicht mehr kennen. Faszinierend, diese Frauen, die schwere Körbe auf dem Kopf transportieren, während ihre Kinder neben ihnen herlaufen und dabei helfen, die selbst hergestellte Ware zu verkaufen, diese Kinder, die dabei helfen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Faszinierend, diese Märkte, auf denen das Fleisch der Tiere in der Sonne hängt, während Taxis Staub aufwirbeln, faszinierend, die Kinder, die daher laufen und mit Autoreifen spielen oder die Kühe ihrer Eltern über die Schlaglöcher der Bergstraßen treiben.
Unberührt sei es, hier in Nicaragua.
Und das ist Vorteil wie Nachteil zugleich; auf den großen Straßen Managuas fahren schwere Laster und Geländewagen neben ächzenden Pferdewagen, an den Kreuzungen halten teure Camionetas, aus deren Boxen laut Musik schallt, während am Bordstein Kinder auf Pappen sitzen und – sobald die Ampel auf Rot schaltet – an die Scheiben der haltenden Autos klopfen, um Geld oder Essen betteln. Die schlechte Wirtschaft, die hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Drogenabhängigkeit, die Perspektivlosigkeit in den Städten sind akute, sind aktuelle, sind beständige Probleme Nicaraguas - doch sie beginnen mit Entdeckung des Landes im 16. Jahrhundert und der Weg, der seitdem gegangen wurde, war nie ein eigenständiger.

Als Christobal Columbus auf der letzten seiner drei Amerikareisen in Zentralamerika landet, weiss er noch nicht, dass er seine italienischen Füße auf den Boden gesetzt hat, der später zum Land Nicaragua gehören wird. Mit ihrer Landung im 16. Jahrhundert gründen die Entdecker der neuen Welt Kolonialstädte wie Granada, die ehemalige Hauptstadt des Landes, und Leon. Sie bringen ihre Sprache, ihre Waffen und ihren Gott mit sich; sie erbauen die größte Kathedrale Südamerikas in Leon und töten beinahe alle Ureinwohner in Xolótlan, das am kleineren der zwei großen Seen des Landes liegt, und gründen die Stadt Managua.
Schon früh erkennen sie die Möglichkeiten, die ihnen das Land zwischen den zwei Weltmeeren liefert, doch der Kanal, der Nicaragua den Reichtum hätte bescheren können, wird an einer anderen Stelle, in einem anderen Land gebaut und heißt deswegen Panama-Kanal. Zur Zeit Philipp II., der sich nun Herrscher über ein Land nennt, in dem die Sonne nie untergeht, denken nur wenige der Eroberer an eine natürliche Wasserstraße, die den Welthandel und später, zum Zeitpunkt des Goldrausches, den Weg nach Kalifornien ermöglicht. Und so bleibt der Rio San Juan unberührt, wie es in den Reiseführern heißt.



Im 18. Jahrhundert stoßen europäische Siedler – darunter zahlreiche Deutsche – zu den Spanien hinzu und kultivieren in Städten wie Matagalpa oder Jinotega den Kaffeeanbau, während die Ureinwohner sich immer weiter in die schwer begehbaren Mangrovenwälder der Karibikküste zurückziehen.
Zu diesem Zeitpunkt hat das Land Nicaragua bereits seine Eigenständigkeit erklärt, hat sich von den Spaniern befreit, und richtet sich nun an den großen Bruder im Norden, der ebenfalls noch wenig Jahre zählt; die Marionette Amerikas wird Nicaragua heute auch genannt.
Anfang des 20. Jahrhundert wird letztlich ein Vertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika gegründet; in diesem Vertrag wird Nicaragua auf ewig – denn es heißt forever - das Recht genommen, einen eigenen Kanal zu bauen und somit das eigene Land, die geographischen und natürlichen Gegebenheiten zu nutzen. Und so bleibt der Rio San Juan, dieser große, breite Strom im Süden des Landes, unberührt, für immer.
Unberührt scheinen auch die nicaraguanischen Regenwälder und das karibische Leben auf Corn Island, sechs Stunden vom nicaraguanischen Festland entfernt. Das Wasser dort ist klar, man kann beim Tauchen Mantarochen und Ammenhaien begegnen und manchmal schwemmt der Drogenhandel auch ein Paket Koks an den Inselstrand. Das Paradies, das Nicaragua darstellt, hat zwei Seiten; und oft ist die schöne Seite nur für uns zu sehen, für Leute, die Geld haben, - sogar wir als Freiwillige gehören dazu.

Das Volk, das im Schatten des Mombachos, der über Granada hinaus ragt, oder des Momotombos lebt, ist ein junges Volk; gerade mal sechs Millionen Einwohner zählt das Land, von denen die Hälfte in Managua, seinen Vororten und den umliegenden Städten lebt. Jeder zweite von ihnen zählt weniger als fünfzehn Jahre; unvermeidbar, scheint es, diese Armut, wenn es nicht nur eine Familie auf dem Land gibt, die mehr als fünfzehn Kinder zählt.
In größeren Städten kämpfen Frauen für Gleichberechtigung und Abtreibung, sie erziehen ihre Kinder ohne Vater, und doch gibt es den Machismo, der sie immer wieder in die Knie zwingt.

Die Probleme Nicaraguas sind wie ein Netz miteinander verbunden, verknüpft; die Armut in fast allen Teilen des Landes, die hohe Geburtenrate auf dem Land, letztlich die Stadtflucht oder sogar die Flucht in ein anderes Land - jeder Dritte der knapp sechs Millionen Nicaraguaner lebt nicht mehr im so schönen Land der Seen und Vulkane, sondern vielleicht in Panama oder Costa Rica, das sie eigentlich nicht mögen, weil die Menschen dort merkwürdig sprechen und sich einiges auf ihren Reichtum einbilden; oder vielleicht fliehen sie in die Staaten mit einem Zug, der im Volksmund la bestia – die Bestie – genannt wird und dessen Route quer durch Zentralamerika verläuft: Nicaragua, Honduras, Guatemala, Mexiko – USA.
So eindeutig seine Route, so unsicher die heile Ankunft: die Reisenden sitzen auf dem flachen Dach der Waggons, fallen oft vom Zug, fallen vor den Zug, oder es ist die Sonne Guatemalas und Mexikos, die sie zum Verzweifeln treibt.



Doch die Nicaraguaner sind auch ein stolzes Volk. Sie sind stolz auf ihr Land, auf die Revolution, auf Ernesto Sandino, auf die FSLN, - und oft sind die Nicaraguaner, die im Ausland leben, zufriedener mit ihrem Heimatland, als ihre Landsgenossen vor Ort.
Sie lieben Gallo Pinto über alles und essen morgens Reis mit Bohnen, mittags Reis mit Bohnen und abends – zur Abwechslung - Reis mit Bohnen! (Ab und an gibt es auch Reis und Bohnen). Sie machen alles aus Maismehl, sie haben täglich frisches Obst und kennen Früchte, deren Namen ich im Englischunterricht nicht zu übersetzen weiß; sie verkaufen Fruchtsaft, genannt Fresco, aus Nancite oder Guayaba, sie unterscheiden so sehr zwischen Honig- und Wassermelone, dass letztere keine Melone mehr ist; sie kochen Yuca oder Quiquisque und es ist ein Jammer, dass es das alles nicht in Deutschland gibt; sie liebe kitschige, romantische Musik und spielen am liebsten spanische Coverversionen von englischsprachigen Hits; ihr Gott ist katholisch und die Kirche ist ihr Rückzugsort – über Gott diskutieren sie nicht, denn da gibt es nichts zu diskutieren, Gott ist eindeutig für sie da und es ist fast ein wenig ironisch, dass der Gott, den ihnen die Europäer brachten, ihnen nun dabei hilft, das auszuhalten, was ebenfalls die Europäer brachten; ihr Zeitverständnis ist südamerikanisch, ein wenig brüderlich-scherzend, sie lassen niemanden warten und wenn, dann liegt es an dir, weil du aus einem Land kommt, in dem Unpünktlichkeit Warten bedeutet; ihr Spanisch ist ein bisschen frecher, ein bisschen lockerer, sie machen sich gerne über die Spanier lustig und kichern dabei wie kleine Kinder.

Man könnte denken, dass den Nicaraguanern allesamt das Elend ins Gesicht geschrieben steht, - aber so ist es nicht. Sie lieben ihr Land, dieses wirklich wunderschöne Land, das tatsächlich zu weiten Teilen unberührt ist; sie sind ruhig, sie sind tranquilo, und sie sind bereit, zu teilen. Sie sind fröhlich, scheinen nie verlernt haben, zu lachen, und das, obwohl sie ein anderes, ein härteres Leben kennen, als wir.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.