Mittwoch, 14. April 2010
Fluchen auf Spanisch
Dass die Familiensituation vieler Schüler nicht die beste ist, weiß ich auch. Aber als ich mit Profe Sandra noch einmal auf dem Campo stehe, während die Kinder ihre actividades libres im Sportunterricht genießen und herumtoben, merke ich erst, wie sehr sich einige der Kinder, die ich vor einem halben Jahr noch wutgeladen erlebt habe, verändert haben; Gerson zum Beispiel ist friedlich. Er spielt mit den Mädchen und Bismark ein Spiel, er feuert seine Mannschaft an, er lacht und hüpft herum. Als wir schließlich den Weg zur Schule anstreben, läuft er neben mir her und nimmt letztlich sogar meine Hand.
Die Situation in der Escuela Publica Wuppertal ist eine extreme; denn während in Deutschland ein Schüler unter dreißig Probleme machen kann und als Sonderfall betrachtet wird, besteht fast die gesamte Klasse Sandras aus Kindern, in deren Familien Gewalt tagtäglich statt findet. Sie nennt mir ein paar Beispiele und mal wieder muss ich beinahe beschämt daran denken, dass ich eine glückliche Kindheit hatte und nicht arbeiten musste; es sind die verschiedenen Seiten des Luxus, die man während eines solchen Jahres erkennt. So ist es Luxus, wenn jemand, der seinen Job verliert, weiterhin finanziert wird; es ist Luxus, finanzielle Unterstützung zu erhalten, wenn man Kinder hat; es ist aber auch Luxus, wenn die gesamte Familie beisammen ist. Und das ist in Nicaragua jeden Tag der Fall. Und ja, genau so ist es Luxus, eine Kindheit mit beiden Elternteilen zu erfahren, in Urlaub fahren zu können, und es ist Luxus, nicht geschlagen zu werden oder nicht in der täglichen Angst leben zu müssen, ohne hinreichenden Grund verprügelt zu werden.
Die Gewalt, die viele Kinder zu Hause erfahren, macht auch vor der Schule nicht Halt; und man muss sagen, dass die Nicaraguaner einiges darauf legen, nicht wie vagos oder ladrones zu erscheinen. Das Bild, das ein Nicaraguaner von sich gibt, ist ihm schon erstaunlich wichtig. Nur wenige Minuten zuvor standen Jessica und Francy aus der 6. Klasse sich gegenüber, fauchten wie die Katzen und schubsten sich herum. Warum? Weil Francy Jessica eine maldita perra nannte - was übersetzt nicht schlimm klingt, denn eine verfluchte Hündin klingt noch läppisch, ist jedoch im Spanischen etwas ganz ganz Böses, was man nie sagen sollte, wenn man auf ein Happy End hofft.
Ende vom Lied: Die beschimpfte Jessica steht wie unter Schock neben mir, hat ein vollkommen bleiches Gesicht und kippt fast um, während Francy ihr Blicke zuwirft, die töten könnten.
Schließlich hilft mir Profe Maritza; sie hält eine kleine Rede über das Leben in der calle, und dass wir uns nicht in eben dieser befinden. Als sie dann der festen Überzeugung ist, dass der Teufel in den Wänden der Schule haust und sich in den Köpfen der ihr lauschenden Schüler fest setzt, entschließe ich mich spontan zu einem Spaziergang über den Schulgang.
Am nächsten Tag erscheint Francy nicht; die anderen Kinder sagen, sie habe die Schule verlassen.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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