Donnerstag, 8. April 2010
Schleichende Sicherheit
Ich koste wohl weniger, vermute ich. Ich bin Freiwillige.
Was, nein, warum. Du, als Ausländerin, kostest viel mehr.
Weshalb diese abstruse Diskussion? In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurde ein Professor in unserem ehemaligen Wohnblock mit fünf Messerstichen niedergestochen. Noch am gleichen Tag wird die Straße gesperrt, die Polizei rückt an, im Radio und Fernsehen ist von nichts anderem die Rede. Am Abend sitzen mehrere hundert Menschen vor dem Haus, es ist die Vela, die Trauerveranstaltung. Ein freundlicher, offener Mensch soll er gewesen sein, achtundvierzig Jahre alt. Als er die Einbrecher, die in sein Haus eindringen, in der Nacht überrascht, wird er getötet. Dies alles geschieht keine hundert Meter von dem Haus, in dem wir sechs Monate lang lebten; und nie, wirklich nie, habe ich mich unsicher gefühlt oder Angst gehabt, wir haben sogar mit offener Tür zum Patio geschlafen. Es sei das gefährlichste Viertel, sagen sie uns später und irgendwie bröckelt ein bisschen das Bild von Matagalpa, das ich bis zu diesem Tage habe.
Als ich am nächsten Tag in die Schule komme, sitzt ein einziger Schüler vollkommen visionsfrei vor dem Tor und lutscht Bananenchips.
Sie sind alle nicht da, sie sind alle in der Messe, sagt er. Ich habe es mir fast gedacht und doch werde ich ein bisschen wütend, dass man mich noch nicht einmal anrufen kann. Ich laufe also die 45 Minuten Schulweg wieder zurück. Der Park und die Stadt sind voll von Schülern, alles ist blau-weiß, während in der Kathedrale die Messe für Sergio Ortega statt findet.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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