Freitag, 28. Mai 2010

Der kinder Cristobal Vanegas

Seit einiger Zeit arbeite ich in einem Kindergarten, einem zukünftigen Projekt, in dem schon bald eine Freiwillige helfen wird; bei dem Kindergarten Cristobal Vanegas handelt es sich um eine Besonderheit: denn zuvor war ich immer davon ausgegangen, dass es etwas wie einen Kindergarten in Nicaragua nicht gebe, - viele Kinder bleiben bis zu ihrer Einschulung den gesamten Tag bei ihren Familien.

Insgesamt 300 Kinder kommen in den kleinen Kindergarten, allerdings erscheinen sie über den Tag verteilt; die Jüngsten unter ihnen sind gerade mal im Kleinkindalter und sind unterm Dach zu finden, wo sie die meiste Zeit schlafen. In den drei unteren Räumen befinden sich Kinder im Alter von drei bis vier, und fünf bis sechs.
Ich begleite Nubia, eine Kindergärtnerin, und ihre Gruppe, die aus etwa 30 Kindern besteht. Zwischen sieben und acht Uhr werden die Kinder von ihren Eltern in den Kindergarten gebracht, um acht Uhr beginnt die Gesamtbetreung. Nuria fängt an, mit den Kindern Lieder zu singen, und einige von ihnen sind noch verschlafen und stehen nur vollkommen verwirrt da, mit ihren kleinen Rucksäcken auf den Schultern, andere hingegen sind wach und schreien die Lieder aus ganzer Kehle mit; sie wünschen sich ihre canzones favoridas und Nubia singt sie mit ihnen, mindestens zwanzig Minuten, mit ganzem Körpereinsatz.
Im Anschluss wird die Anwesenheit der Kinder überprüft; laut und mit ganzer Kraft rufen sie: presente und Nuria zeichnet Kreise in ihr Buch.

Der Kindergarten übernimmt hier nicht nur die Aufsicht über die Kinder; genau so ist es eine Vorbereitung auf die Schule, einige der Knirpse tragen schon Schuluniformen, aber nur aus dem einfachen Grund, dass es ihren Eltern gefällt, erklärt mir Nubia.
An diesem Tag basteln die Kinder Vokale und wiederholen die Zahlen von 1 bis 20. Es ist eine angenehme, ruhige Stimmung, wenn man bedenkt, dass jedes dieser Kinder einen Bewegungsdrang hat, spielen will, aus sich raus will.
Aus Filz basteln sie lauter kleine as, die wir gemeinsam auf Papier kleben und anschließend an der Wand anbringen. Zwischendurch wird immer wieder gesungen, oder ein kleines Spiel gespielt. Heute kann auch ich etwas beitragen und einen großen Inhalt meiner Kindheit weitergeben: Rübenziehen. Bereits in der Grundschule haben wir dieses Spiel gespielt und ich würde heute immer noch mitspielen, aber ich gebe mich ein bisschen erwachsen und erkläre, wie es geht. Alle Kinder legen sich im Kreis auf den Boden und haken sich bei ihren beiden Nachbarn ein; Nubia und ich fangen an, die Kinder an den Füßen aus dem Kreis zu ziehen. Es wird gekreischt und gequiekt und Nubia und ich sind ordentlich am Schwitzen, als wir mit den kleinen Stöpseln zu tun haben.

Gegen 9:30 Uhr findet die Pause statt. Nubias Kinder, die Pescaditos (Fischchen), setzen sich auf die Bänke auf der Veranda, es kommt eine Frau aus der Küche und verteilt Kekse und Fresco. Für 300 Kinder kochen sie, jeden Tag.
Um 10:00 Uhr waschen sich die Fischchen ihre Flossen, Nubia und ich helfen, danach gehen wir zurück in den Raum. Es wird ein bisschen modelliert, - und das ist kein Quatsch. Schon hier im Kindergarten werden die Kinder dazu aufgefordert, im Kreis zu laufen, zu winken, mit den Hüften zu wackeln, ihren Freunden zuzuwinken; einige genießen es und sind ganz Model, andere hingegen machen gar nichts und laufen desorientiert zickzack. Und das ist ganz Nica, es wird nämlich trotzdem geklatscht und Nubia feuert alle begeistert an.
Während Nubia Kleben an die Kinder veteilt, schreibe ich schon mal die Hausaufgaben in die Hefte der Kinder: große es, die sie ausmalen sollen.

Gegen 11:00 Uhr essen die Kinder zu Mittag, ich verteile Schüsseln mit Bohnen und Nudeln, Reis und Tassen mit Fresco. Einige Kinder bleiben bis 12:00 Uhr, andere bis 17:00 Uhr im Kindergarten, der auf Spanisch übrigens kinder heißt, für sie ist es ein Ort, an dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbringen; zu Hause sind sie nur, um zu schlafen. Viele der Eltern, deren Kinder im Zentrum Cristobal Vanegas sind, haben drei Kinder, in jedem Raum eines, - zwar müssen sie nicht für alle drei den gleichen Betrag zahlen, und doch ist es auch eine Kostenfrage.
Bis vor einem Jahr wurde der Kindergarten nur über den monatlichen Beitrag der Eltern und über Spenden aus Deutschland finanziert, seit einiger Zeit unterstützt auch die Regierung die Institution, - und doch betont die Kindergartenleiterin in jedem Gespräch mit mir, wie wichtig die finanzielle Unterstützung ist.

Während einige Kinder draußen auf ihre Eltern warten, sitzen andere in einem anderen Raum und gucken einen Film. Ich sitze mit Orlando und Judith auf einer der Bänke, beide weinen um die Wette und um die Misere zu retten, fange ich an, beide zu kitzeln; ein Konzept, das bei Kindern immer funktioniert, auch bei den beiden Zwillingen, Axel und Ernesto, die die meiste Zeit damit verbringen, zu raufen, ihren Fuß dem anderen ins Gesicht zu halten und sich über den begangenen Schaden tot zu lachen. Letztlich sitzen wir vergnügt auf der Bank, alle kichern und sind noch viel fröhlicher, als ihre Eltern sie abholen.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.