Dienstag, 18. August 2009

Ein Tag voller Gegensätze

Gestern war ein merkwürdiger Tag.

Nicht nur, dass ich mittlerweile auch deutsche Sätze auf Spanisch vorformuliere; es haben sich an diesem Tag viele Dinge ergeben, die nicht abzusehen waren, deren Konsequenzen mein kleines Leben jedoch hin- und herwarfen wie eine Nussschale auf dem Atlantik - einige davon bringen mich ungeahnt vorwärts, andere hingegen verstehen es, mich in meiner Motivation zu bremsen.

Denn als ich heute in die Schule kam – mit einem phänomenalen Lehrplan im Kopf, der die Nicas alle umgehauen hätte -, musste ich fest stellen, dass ich auch diese Woche solamente por observar in der Escuela Publica Wuppertal vorbeischauen würde.
Für Mary Lou war das schon lange sonnenklar.
Für mich leider nicht.

Und ich wollte schon enttäuscht die Schultern hängen lassen, da wurde ich von den Kindern der Quarto B in einen Sog aus nicht endender Vorfreude und begeisterter Neugierde gerissen; selten haben Menschen so strahlend und fröhlich auf meine Erscheinung reagiert und ich fand mich selbst perplex vor den Knirpsen, die mir gerade mal bis zum Bauchnabel gehen, sich wie selbstverständlich an mich schmiegten und sich scheinbar nichts sehnlicher wünschen, als von mir in Sport unterrichtet zu werden.

In diesen Momenten bin ich überglücklich und skeptisch zugleich; einerseits wirken meine Arbeitstage in meiner Einsatzstelle merkwürdig abstrus – ein jedes Mal frage ich mich, was die Kinder von mir erwarten, was genau sie wissen lässt, dass mein Unterricht so unglaublich spannend wird wie es ihre leuchtenden Augen vermuten lassen, und was genau Paul mit ihnen gemacht hat, dass sie sich so über meine (meistens abgekämpfte) Person freuen. Und dann bin ich natürlich froh, so empfangen zu werden; Probleme im Umgang mit den Kindern, mit denen Vivi und Lina teilweise zu kämpfen haben, stelle ich einfach nicht fest – und wieder frage ich mich, ob das Dinge sind, die sich erst erkennen lassen, wenn ich vor einer Klasse von 30 Kindern stehe und mein Spanisch versagt.

Vermutlich sind das die Ängste – wenn man es denn Ängste nennen will -, die mich momentan am meisten plagen: denn dass mein Spanisch schon deutlich besser ist als am ersten Tag weiß auch Mary Lou.

Womöglich weiß sie aber genau so, dass es noch lange dauern wird, bis ich mich damit durchsetzen und völlig verständigen kann. Vielleicht kam gerade an diesem Punkt die Pädagogin in meiner Chefin durch, die erkannte, dass ich noch eine Woche brauchte.

Genau so befürchte ich aber den Tag, an dem die Begeisterung der Kinder für meine Wenigkeit nachlässt und ich von der deutschen Attraktion zur Lehrerin werde, zu einem Teil des Kollegiums. Sicherlich ist gerade dieser Schritt, dieser Vorgang, diese schleichende Routine nötig und sicherlich würde das Jahr ohne diesen Prozess nicht funktionieren: und doch bin ich skeptisch, wenn ich dieser Tage meinen Weg ins Projekt entlang der großen Straße laufe.
Ich habe einfach keinen Plan, worauf all diese kleinen Dinge hinauslaufen, um das große Ganze maßgeblich zu verändern bzw. zu beeinflussen.

Wenn mich dann auf dem Rückweg nach Hause Daniel Ortega mit einem Siegeslächeln grüßt, um mit mir den dreißigsten Geburtstag der großen Revolution zu feiern, denke ich anders, bin ich gelassener. Die Kinder nehmen mir meine Befürchtungen und geben mir dafür ein ganz unbeschreibliches Glücksgefühl.

Allein heute saß ich - solamente por observar – im hinteren Teil der Klasse, als sich eine fünfköpfige Gruppierung quiekender Mädchen dazu entschloss, mich mit ihren Sitztischen zu umzingeln. Ich hatte noch nicht einmal die Gelegenheit, noch einmal ordentlich Luft zu holen, da saß ich schon in einem Kreis aus Tischen und wurde neugierig beäugt. Der Rest des Schultages wurde mit dem Erlernen der Namen der Mädchen verbracht und einem scheinbar recht beliebten Fragespiel in den Schulen Nicaraguas: denn aus einem mir noch verschleierten Grund besitzt die englische Sprache eine erstaunliche Anziehungskraft auf die Kinder und so wollen alle wissen, wie ihre Namen im Englischen heißen. Ich strenge mich dann immer an und versuche, sie mit möglichst amerikanischer Aussprache zu beeindrucken und zu beglücken, allerdings muss ich jedes Mal passen, wenn ein Kind mit nicaraguanischen Namen daher kommt – die sind nämlich meist so kompliziert, dass ich erleichtert bin, wenn ich das Gesagte wiederholen kann, ohne dabei den europäischen Kulturtrampel zu geben. Trotzdem hat es heute ganze fünfzehn Minuten gedauert, bis ich verstanden habe, dass mich ein Kind nach Shakira gefragt hat.
Shakira, Elvis, Michael Jackson – ob die auch in Deutschland Konzerte geben.
Ja, sage ich, nur bei Michael Jackson und Elvis wird es langsam schwierig.

Auf die erste Reaktion – einen großen Brauneaugenaufschlag – folgt ein erstauntes „Oh“, dann fragen sie, was Guatemala und Costa Rica auf Englisch heißt.
Da kann ich dann wieder beeindrucken.

Um halb sechs durfte ich die kleine Schule wieder verlassen und wurde geherzt und geküsst und kam kaum aus meiner Kindertraube los. Anschließend wurde ich von Stainley bis zur Bushaltestelle begleitet: dort stellte sich heraus, dass er genau in der anderen Richtung lebt und den Weg nur gegangen war, um mich zu begleiten.

In solchen Momenten will man sie alle adoptieren – und das sagt jemand, der nie Kinder haben wollte.

Aber abgesehen von diesem erneuten Tag in der Schule, der mich zum Ende hin wird ruhig einschlafen lassen, nahm eine weitere Nachricht meinen Tag geradezu extrem ein; es war eher ein Scherz, den ich da gedankenlos von mir gab, als Lussi und ich auf der Massagebank in der Sprachschule saßen und uns von unserem Wochenende erzählten, während wir fasziniert dem Geräusch lauschten, das entsteht, wenn Plastikflipflops auf braune Füße treffen.*

Einfach so sagte ich, dass ich mir nicht vorstellen könne, ab der nächsten Woche vormittags zu Hause zu sein, um erst nachmittags in mein Projekt zu gehen. Zudem – und das war wohl der ernste Part meiner Gedanken – kann ich mir noch immer nicht vorstellen, Lussi und Diana nicht mehr zu sehen. Sie sind unsere Freundinnen geworden und durch den Sprachkurs sehen wir sie jeden Tag; dieses gefühlt ungezwungene Beisammensein würde jedoch ab der nächsten Woche von uns fallen. Also fragte ich einfach so, ob es nicht eine Arbeit in der Sprachschule für mich gebe.

Ab heute sind Lussi und ich nicht nur Freundinnen, sondern auch Arbeitskollegen.

Denn Noelia, die Leiterin von Matagalpa Tours – und meine neue Chefin -, freute sich wahnsinnig über mein Angebot. In einer Woche werde ich anfangen, die maestros und maestras de espanol in Englisch zu unterrichten, da ihre Kenntnisse aufgefrischt werden müssen bzw. noch nicht wirklich vorhanden sind. Wenn ich es möchte – und wenn es in meinen Stundenplan passt –, kann ich das gesamte Jahr in der Sprachschule aushelfen und kriege dafür im Gegenzug meine Spanischstunden erstattet. Dass ich nicht für Geld dort arbeiten möchte, habe ich von Vornherein gesagt; einerseits, weil es gar nicht möglich bin (ich habe den Status einer Freiwilligen, d.h. kein Geld für mein Werken für den Weltfrieden) und andererseits, weil es womöglich eine Arbeit ist, die ich einem Nicaraguaner wegnehmen könnte.

Trotz all der Enttäuschung, die ich heute also zunächst verspürte, als man mir eine weitere Woche Rückenschmerzen in der Schule verordnete (diese blauen Tischstühle sind für Personen ab 130 cm alles andere als gesund), bin ich also nun doch unendlich glücklich; ich werde nicht nur Lussi regelmäßig sehen, sondern habe auch einen Weg gefunden, der es mir ermöglicht, selbst einiges dazu zu lernen und anderen zu helfen.

Ich hatte schon befürchtet – sollte der Stundenplan so bleiben, wie er momentan ist -, mein Auslandsjahr im Internet zu verbringen.

*Überhaupt haben unsere vormittäglichen clases de espanol eine unglaubliche angenehmen, geradezu rituellen Ablauf gefunden, bei dem ich mehr

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.