Freitag, 25. September 2009
Lange Nacht und blinder Tag
Ich muss zugeben, dass die meisten Probleme, die ich momentan habe, eingebildeter Natur sind; es geht mir gut. Und doch geht es schleppend im Projekt voran, - wenn man denn davon sprechen kann, dass es tatsächlich voran geht. Als ich Mittwoch in die Schule kam, sagte man mir, dass die Klasse, die ich nun unterrichten sollte, schon gegangen war, weil es mal wieder eine Parade zu Ehren einer Jungfrau gab. Solche Dinge sind abzusehen, oder nicht? Zumindest am Tag vorher.
Ich wartete also mit der Putzfrau, mit der ich mich jetzt duze, und ihren Freundinnen vor der Schule auf den Moment, in dem es 16:30 Uhr sein sollte - denn dann sollte ich die 6to A und B unterrichten. Als ich jedoch mit Profe Pedro sprach, sagte der nur, dass er Gitarre spielen könne und eine Mandoline hätte und wir ja auch mal zusammen musizieren könnten.
Aber was hat das mit Sport zu tun? Gut, ich will gar nicht genau drüber nachdenken.
Mercedes - die Putzfrau -, erklärte mir dann, dass Profe Pedro loco sei. Was ich ihr in diesem Moment durchaus abnahm. Ich saß also stillschweigend auf den Treppen vor der Schule und versuchte, mir vorzustellen, was ich mit den Pubertierenden (etwa im Alter von 15 Jahren; zu cool, um interessiert zu sein, zu jung, um erwachsen zu sein) in Sport machen könnte, als Mercedes mir irgendwann sagte, dass ich heute nicht mehr unterrichten würde, weil Profe Pedro gleich Schluss machen würde. Ich könnte also gehen.
Und nach einem weitere Gespräch mit Profe Pedro war ich mir relativ sicher, dass Mercedes recht hatte. Also ging ich.
Ich war ein wenig gefrustet über den Dienst, die Stelle, meine eigene Einstellung und die Welt; zugegeben: das war ziemlich viel auf einmal. Und wie zum Beweis, begann es zu regnen, ich beobachtete vom Porche aus, wie unsere Straße zu einem kleinen Fluss wurde und dachte über das nach, was ich hier tun kann und was ich tun muss. Ich habe eine Verpflichtung hier und ich habe leider ein zu starkes Gewissen, als dass ich so tun könnte, als würden die bettelnden Kinder, die zahnlosen Männer und die schreienden und weinenden Frauen mich tatsächlich nichts angingen. Ich weiß, dass es von diesen Menschen in Südamerika viele gibt, dass es davon Betroffene auf der ganzen Welt gibt und dass ich allein zu wenig bin, um dem entgegenzusetzen. Ich kann es nicht mit einem einzigen Schlag wieder gut machen - aber ich habe mich für dieses Jahr entschieden, für dieses Land. Und dann fällt es schwer, dem ganzen eine Verständlichkeit abzuringen; - Donnerstag saß ich also wieder auf den Treppen meines Hauses und zählte die Fliegen auf den Fliesen.
Donnerstag. Es war Tims blinder Tag - ein Tag, an dem er merken sollte, wie es ist, blind zu sein. Denn da er einen blinden Jungen betreut, war es Mirtes Idee, ihm für einen Tag die Augen zu verbinden. Tim sah also den gesamten gestrigen Tag aus wie Stevie Wonder und verhielt sich auch teilweise so; das bedeutet, dass er plötzlich begann, ein fiktives Klavier zu spielen und mit dem Kopf zu wackeln. Aber abgesehen davon, hat er sich ganz gut gemacht - und auch, wenn heute ein regnerischer, wolkenbehangener Tag ist, wird er nicht müde, die Helligkeit zu betonen.
Für Mirte und Froukje war der gestrige Tag genau so ein blinder Tag wie für Tim; denn den Mittwochabend verbrachten wir im Artesanos, und während Vivi Liebesbriefe vom Kellner bekam, verkündete Mirte nach einer gewissen Zeit - und nach einigen Bieren -, dass sie alle Männer im Artesanos lieben würde. Daraufhin kamen mehr Männer an unseren Tisch als vorgesehen (wenn man bei Mirtes Zustand noch davon reden kann, dass sie überhaupt irgendetwas vorsah). Im Laufe des Abends gab Mirte noch weitere erstaunliche Dinge bekannt, und als sie schließlich fest davon überzeugt war, aus Israel zu kommen, rief Emmanuel uns ein Taxi. Um halb drei waren wir dann zu Hause und nur mit Mühe hielt ich Mirte davon ab, die Musik laut aufzudrehen, um zu tanzen. Alles in allem gab es also am nächsten Tag genug Gründe, um blind zu sein - und es war umso besser, dass gestern ein weiterer Nicafeiertag war.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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