Montag, 28. September 2009
... und die Kartoffel tanzt
Wir machten also ordentlich Rabatz bei unserer Vermieterin und nach zwei Tagen im größten Binnenhafen Nicaraguas kam auch schon ein sonnengebräunter Nica, der sich die Zeit nahm, erst einmal ein bisschen in unserem Patio rumzusitzen. Danach entschied er sich, die Toilette neu einzubetonieren und Tim nutzte die Gelegenheit, ihn auf den Patio aufmerksam zu machen, wo das Wasser nicht sonderlich ablief. Kein Problem, dachte sich der gute Mann, und fing auch schon bald an, Zement zu backen.
Wir verbrachten diese Tage in einem leicht schimmeligen Zustand, denn ab einem gewissen Zeitpunkt konnten wir zwar wieder die Toilette benutzen, ohne gleichzeitig in See zu stechen - dafür durften wir uns nicht duschen. Irgendwas ist immer!
Aber nein, so schlimm war es dann doch nicht.
Nach zwei Tagen im kollektiven Schlummeralarm kehrte heute wieder der Alltag in unser Leben ein; und somit - Ende September - auch das, was man hier Winter nennt: wir haben vielleicht siebenundzwanzig bis dreißíg Grad und dicke Wolken sind jeden Tag zu sehen ... und ich habe mir auch schon eine Erkältung eingefangen.
Das hat jedoch die Ninos der 4to B heute überhaupt nicht beeindruckt. Die Tatsache, dass ich hustend und kurz vorm Verrecken an der Tafel stand, war eher lustig. Sogar die Professora musste lächeln, während Mary Lou im Windfang der Schule ein kleines Feuerchen fackeln ließ und sich auf den Steinen räkelte. Manche Dinge hier verstehe ich einfach nicht.
Im Unterricht muss ich immer wieder fest stellen, dass die Kinder eher das abschreiben, was sie abschreiben wollen: als wir über frutas - fruits sprachen und einige zusammen getragen hatten, kamen doch erstaunliche Mischungen heraus, die noch nicht einmal unsere Nachbarn aus der Milchshakebar zusammen stellen würden: strawberry und mandarin zum Beispiel wurden zu stramdaberrin. Ich überlegte ernsthaft, ob ich das mit meinem Linguistikstudium in Angriff nehmen sollte.
Wie auch immer: zum Schluss kriegte jedes Kind eine tanzende Fleißkartoffel ins Heft gemalt und ich war beeindruckt, wie viel ich mit dieser beschränkten Gemüsezeichnung doch am anderen Ende der Welt anstellen kann - man weiß also nie, wofür es gut ist.
Kurz bevor ich ging, spielten wir noch ein Spiel und geradezu euphorisch wiederholten die Kinder die Zahlen von 1 bis 20. Da ging es mir doch wieder gut - und doch danke ich für die Fürsorge und das Interesse, das offensichtlich an meiner Verzweiflung wie an meiner Besserung besteht: Danke, Viola :)
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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