Donnerstag, 1. Oktober 2009
Der Winter kommt ...
Ich hatte mir irgendwie schwer vorstellen können, dass es auch in diesem Jahr einen Oktober geben würde - einfach, weil dieses Jahr vieles so anders sein würde, so ungewohnt. Und zu all den Überraschungen, die dieses Leben hier in Matagalpa für uns bereit hält, passte in meiner Vorstellung ein ganz normaler Oktober, der auf einen ganz normalen September folgt, nicht.
Heute, am 1. Oktober, sehe ich, dass die Zeit wie immer vorwärts geht und wir selbst dazu nichts tun müssen - außer unsere Zeit hier genießen. Im Projekt geht es voran: das kann ich nun sicher sagen.
Dienstag hatte ich eine ganz wunderbare Unterrichtsstunde mit der 4to A. Wir lernten gemeinsam Fruits udn Vegetables kennen, ich hatte dazu ein Spiel vorbereitet, zu dem sie in Gruppen zusammen kommen mussten; - und zur Belohnung gab es Bonbons.
Ja, ich weiß, das ist nicht gerade vorbildlich, Kinder zu bestechen ... aber der Sinn meiner korrupten Unterrichtsführung lag darin, die Kinder zu belohnen, ihnen das Gefühl zu geben, dass ich auf sie zugehe, dass ich sie akzeptiere, dass sie etwas richtig gemacht haben - und dass da jemand ist, der das bemerkt.
Dass es nicht gerade leise werden würde, hatte ich mir schon gedacht; und wie immer raste Gerson wie wild durch die Klasse, klaute Stifte und Hefte und behauptete, es seien seine eigenen Utensilien. Ich hatte die Idee, ein Spiel zu spielen, schon beinahe aufgegeben, aber die Kinder waren so sehr hinter diesem Spiel her, dass ich mir dachte: na gut, was solls? Und es kam mal wieder einer dieser Momente, in denen mich die 4to A völlig überraschte: denn für das Knotenspiel benötigt man zu Beginn ein relatives Chaos. Kein Problem, dachte ich mir, das kriegen wir hin.
Aber ausgerechnet die 4to A, die normalerweise aus einem großen fleischigen Kinderhaufen besteht, verstand dieses Wort nicht. No, necessitamos un chaos, sagte ich und ruderte wild mit den Armen in der Luft umher, um ihnen die Verwirrung, die wir für das Spiel benötigten, zu vergegenwärtigen. Aber sie sahen mich nur überrascht an und hielten sich an den Händen, in einem großen Kreis. In dem Moment hätte ich nochmal Bonbons ausgegeben, wenn ich noch genügend gehabt hätte.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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