Donnerstag, 1. Oktober 2009
Wie es wirklich ist
Gerson, den ich vor Wochen noch authentisch nannte, führt ein Leben, das man nie authentisch nennen dürfte; genau so David, ein schüchterner Junge, der so lieb und sanft ist, dass er in der Klasse wie ein Fremdkörper wirkt; die Kinder begegnen sich selbst mit einer wechselwirkenden Unverständlichkeit: es gibt Momente, in denen sie sehr lieb zu einander sein können, am gleichen Strang ziehen, Momente, in denen sie das Leben, das sie führen, vereint. Und dann gibt es Momente, in denen sie nicht wissen, wohin mit sich und all der Wut und den Missverständnissen und der Einsamkeit, - und dann begegnen sie sich, als träge der jeweils andere die Schuld an der Traurigkeit ihres eigenen Lebens.
Ich stehe hilflos daneben.
Die Geschichten dieser Kinder sind so gut wie geschrieben; und als Profe Judith mir detailliert schilderte, mit welcher Brutalität viele der Kinder zu Hause konfrontiert werden, mit welchen Mitteln sie - hilflos, wie sie sind - versuchen, sich selbst zu helfen, - da saßen wir beide im Klassenzimmer und haben geheult.
In diesem Moment kam ich mir so furchtbar vor, mit all meinem europäischen Unwissen, mit dem ganzen Unverständnis und dem mangelnden Vorstellungsvermögen von dem, was Leben hier bedeutet. Was kann ich tun, jetzt, da ich von all dem weiß, jetzt, da ich die Geschichten der Kinder kenne? Es wird mir vielleicht helfen, meinen Unterricht besser auf sie einzurichten. Aber muss ich nicht mehr tun? Darf ich überhaupt so weitermachen wie bisher, einfach meine Stunden unterrichten und danach nach Hause gehen? In mein Haus, in mein Zimmer, wo ich alles habe, was ich mir einbildete zu brauchen: einen Computer, genug Kleidung für ein Jahr, Bücher, die ich lesen kann, Bilder meiner Freunde, eine Kamera, einen Ipod ... ich habe einen Kühlschrank, der fast immer voll ist, ich habe Menschen um mich herum, ich habe einen Platz, an den ich gehen kann - sogar in Nicaragua.
Ich zahle im Monat 4000 Cordoba für das Haus. Das ist mehr als das Monatsgehalt meiner Directora.
Was kann ich also tun? Was darf ich tun? Was muss ich tun, nachdem ich das alles weiß?
Ich habe den Beschluss gefasst, mehr zu tun, als zu unterrichten. Ich kam in dieses Land für die Escuela Wuppertal - und folglich ist es der Grund, weshalb ich hier bin. Ich werde also montags mehr Zeit aufbringen als nur eine Stunde, ich werde mich um die Kinder kümmern - und wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, dann werde ich es tun.
Das sagte ich auch Profe Norma, der Condirectora, und wieder waren wir am Heulen. Ich hatte wirklich keine Ahnung.
Mirte und Froukje zweifelten anschließend an, dass es der Sinn meiner Arbeit sei; und ich verstehe, was sie meinen: ich mag ein Jahr hier sein, aber dann werde ich wieder gehen. Und so groß die Probleme der Kinder sein mögen - ein schlagender Vater hört nicht nach einem Jahr auf. Eine geisteskranke Mutter, die den ganzen Tag ans Bett gefesselt ist, um schlimmeres zu verhindern, wird nicht nach einem Jahr gesund, nur weil die Deutsche dann geht. Sollte ich mich um die Kinder kümmern und sollten sie mich auch in dieser Hinsicht als eine Vertrauensperson akzeptieren, werden sie möglicherweise an meinem Verschwinden im Juli 2010 weitaus mehr zu knabbern haben.
Andererseits verhindert ein solches Denken jegliche Hilfe; es ist immer leichter, nichts zu tun. Und wenn es doch etwas gibt, was ich für diese Kinder tun kann, - dann ist es verdammt nochmal meine Pflicht, es zu tun. Das habe ich im Stillen für mich beschlossen und Profe Norma verkündet, die daraufhin erneut von Tränen geschüttelt wurde. No soy una psychologa, pero soy humana.
Sie war mir trotz allem dankbar und gemeinsam werden wir die Tage einen Plan erarbeiten (zu diesem Plan gehört auch Lussi, die möglicherweise als Psychologin zur Seite stehen kann ... allerdings weiß sie noch nichts davon ...). Ich habe nun das Gefühl, dass meine Arbeit hier langsam beginnt, Sinn zu machen; dass mehr hinter diesem Jahr steckt als man in der Beschreibung meiner Aufgabe auf aktiv-zivil.de erahnen kann - und doch würde ich mich schlecht fühlen, wenn ich nach 12 Monaten in Nicaragua nicht so geholfen hätte, wie ich denn tatsächlich könnte.
Was auf mich wartet, wird sicherlich nicht leicht - kein bisschen. Vielleicht, sehr wahrscheinlich, werden die Geschichten, die ich zu hören kriegen werde, mich mehr erschüttern, als ich es mir jetzt vorstellen kann. Aber es ist immer einfacher, nicht zuzuhören; es ist immer einfacher, die Augen zu schließen; es ist immer einfacher, nichts zu tun. Aber dafür muss ich nicht nach Nicaragua gehen.
Wäre ich ein Hippie, würde ich dem Westen vorhalten, dass er schon seit Jahren seine Ohren geschlossen hält. Ich bin zwar kein Hippie, aber ein Drittewelttourist will ich auch nicht sein.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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