Montag, 26. Oktober 2009
Ein neuer Freund
Ich hielt nicht Abstand, aber jemand, der mich ständig zum gemeinsamen Zupfduo einläd ohne mein Können sachgerecht beurteilen zu können, jemand, der mit dem Handy Fotos von den Bäuchen seiner Kolleginnen macht und anschließend verkündet, sie seien alle schwanger ... was denkt man von so jemandem?
Fest steht, dass - Fotos hin, Fotos her - Profe Pedro ein feiner Kerl ist, dessen weitschweifender Geist sich eine Hülle gesucht hat, die auf den ersten Blick nicht zu ihm passen mag; Profe Pedro ist kleiner als ich.
Das ist nicht ungewöhnlich in Nicaragua - tatsächlich ist es schwer, hier Menschen zu finden, die über 1.70 m sind (von Tims Situation bei den Schlümpfen und Schlumpfinen in seiner Schule wollen wir nun mal nicht sprechen) -, aber für einen Mann kann es zum Problem werden. Deshalb, oder vielleicht auch aus orthopädischen Gründen, trägt Profe Pedro Schuhe, die ihn ein bisschen größer machen; ich kann ihm trotzdem noch aufs Haupthaar schauen. Er erinnert mich an einen Lehrer an meiner ehemaligen Schule. Aber Profe Pedro ist anders; er trägt bevorzugt Schmuck, und das bedeutet, dass seine Armgelenke und Hände glitzern, strahlen müssen, genau wie sein makelloses Lächeln, das er auf dem Campo der Sonne entgegen hält.
Manchmal teilt Profe Pedro eine Eigenart, der viele Menschen in Nicaragua scheinbar unwissend nachgehen: sie tragen T-Shirts mit englischen Aufdrücken, die sie allerdings nicht zu verstehen scheinen. So kam es, dass viele meiner Lehrerinnen bereits T-Shirts mit Barbie Girl oder Sweet Princess trugen und ich zu Boden gucke, nicht wissend, ob ich das überhaupt im Geiste überdenken ... kommentieren darf. Profe Pedro hat in diesem Fall den Vogel abgeschossen, denn selbstbewusst wie er ist, trägt er ab und an sein Lieblingstshirt: I am the product of a wild party night. Ich sage nichts.
Ob diese kühne Behauptung des Profes völlig aus dem Wind gegriffen ist, ob seine Herkunft tatsächlich derartig einfach ist, dass sie auf ein T-Shirt passt, will ich nicht in Frage stellen und ist auch nicht Objekt dieses Beitrages.
Für Schüler wie für Lehrer - und überhaupt, für scheinbar ganz Matagalpa - ist Profe Pedro ein Kumpel, der nette Typ, der alle kennt, mein Homie.
Als ich an meinem Geburtstag seine Klasse betrete, sagt er lässig: Uno, dos, tres - und seine Alumnos erheben sich und singen. Es braucht nicht lange, bis man merkt, dass dem Profe etwas ganz wunderbares gelungen ist: er teilt mit den Kindern eine Beziehung zwischen Lehrer und Freund, zwischen Kollege und Meister, - und er hat trotzdem ihren Respekt.
Als Profe Pedro und ich die 6to B am Freitagnachmittag zum Campo begleiten, liegt ein wunderbarer Abendhimmel über der Stadt. Das Licht ist mild und mein Haar schimmert orange. Der Profe neben mir grüßt jeden und fragt selbstverständlich: que pasa, hombre? Was geht, Mann? Und die Menschen des Primero Mayo antworten zurück, reichen ihm die Hand.
Wir unterhalten uns, während der Rest der Rasselbande ganz selbstverständlich und eigenständig Fußball oder Volleyball spielt; da zieht Profe Pedro sein nächstes Ass aus dem Partyproducttshirtärmel: Vormittags ist er Philosophieprofessor an der Uni.
Die Stunde verfliegt und während die Sonne langsam untergeht, unterhalten der Profe und ich uns über Kirkegaard, über Kant, über Sokrates - und über die Anwendung europäischer Philosophie in einem Land wie Nicaragua. Profe Pedro weiß selber viel über Theorie und Praxis und so sehr er all diese Dinge verinnerlicht, so sehr weiß er auch, dass abendländische Philosophie in Zentralamerika begrenzten Einfluss im Vergleich zur europäischen Ausgangsreligion hat.
Als wir uns verabschieden, ist es dunkel. Und ich möchte, dass möglichst bald wieder Freitag ist.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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