Donnerstag, 5. November 2009

Buena Suerte

Nachdem ich in den vergangenen Wochen mit beinahe allen Grados frutas und verduras behandelt habe, füllen sich die Regale meines Zimmers mit lustigen Zitronen, riesigen Kirschen mit Fühlern und Orangen mit Antennen; kurzum gesagt: botanische Eigenheiten, die durchaus - um daran anzuknüpfen - exotisch sind.

Heute Morgen befand ich mich in der schwierigen Situation, den bunten Schnipselcocktail irgendwie zu benoten. Das nicaraguanische Schuljahr endet bereits in zwei Wochen; und anschließend haben wir vom 20. November bis zum 1. Februar frei. Darf man das überhaupt laut sagen bzw. in meinem Falle leise eintippen?

Um die Nicas vollkommen durcheinander zu bringen, habe ich mir ein kompliziertes Punktesystem ausgedacht. Gut, so kompliziert ist es nicht: wenn ein Nino oder eine Nina wirklich schöne FRüchte gebastelt hat und ich auch noch aus dem aktiven Part des Unterrichts weiß, dass er oder sie sich zumindest an einige englische Namen erinnert - dann gibt es ein ++. Wenn die Früchte nett sind, aber bei Spielen wie Activity oder in den Examen und Kreuzworträtsel, die ich austeilte, deutlich wurde, dass sich Gedächtnis und Ingles nicht anfreunden wollen - dann gibt es eben ein +.
Ein - gibt es so gut wie gar nicht ... oder sagen wir: es gibt es. Aber nicht bei denjenigen, die lustige Obstüberraschungen kreierten; sondern nur in einem sechsten Grado, wo die Adolescentes doch tatsächlich dachten, mich betuppen zu können. Da war mein junger Maestrastolz doch ganz schön am Bröckeln und deshalb gab es ohne Mitleid ein Minus. Heißt aber auch nichts Schlimmes, denn ich weiß gar nicht, ob meine Noten, mein Englischunterricht, überhaupt Einfluss auf das Endzeugnis haben. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es ein Zeugnis gibt.

Dafür gehen die Ninos der sechsten Klassen zum 28. November. Sie gehen. Sie verlassen die Escuela Publica Wuppertal. Dafür wandern alle anderen Grados eine Treppe höher und neue kleine, süße Kinder kommen hinzu. Und mit denen kann ich dann wieder Früchte basteln. Ich freue mich schon.

Zurück zu meiner Benotung. Das stellt sich nämlich als ein bisschen schwierig heraus: ein paar Kinder haben Herzen gebastelt statt Früchte. Ist ja auch irgendwie süß. In Deutschland hätte man die Aufgabenstellung verfehlt und somit im Prinzip für nichts gearbeitet. Bei wiederholtem Verstoß gegen den Arbeitsauftrag würde man vielleicht von einem Kind mit Lernschwäche oder Anpassungsschwierigkeiten sprechen.
Manchmal ist es ganz schön kompliziert, diese deutsche Sicht. Vielleicht basteln die Kinder auch einfach lieber Herzen, zumal es auf Weihnachten zugeht.
Einige haben an den Rand geschrieben: Profesora Barbara, buena suerte.

Danke, denk ich mir, ist wirklich putzig. Vielleicht erwecke ich den Eindruck, dass ich buena suerte richtig nötig hab. Ich muss wieder daran denken, dass Mary Lou für mich beten wird. Ay, ay.
Einige haben das auch auf ihr Examen geschrieben - vielleicht haben sie gehofft, dass es ihnen hilft, sich an die Früchte zu erinnern. Oder vielleicht wollen sie mich damit auch einfach zu einem ++ kriegen.

Ich ringe mit mir selbst, als ich da so auf meinem Bett sitze und die Orangen, die Melonen, die Kaffeepflanzen und all diese kleinen botanischen Wunder der 4to A und 4to B bewerten soll. Und dann ist da noch die Sache mit den Lieblingsschülern. Ich gebe es zu: Ich habe sie. Kinder, die mich ganz besonders zum Lachen bringen, die um mich herum hüpfen und mir das Gefühl geben, dass ich unersetzlich bin. Wer würde das nicht mögen? Ich hüte mich, sie zu bevorzugen.
Ich entscheide mich schließlich für eine recht liberale Bewertung, ein bisschen Pestalozzi, ein bisschen Montessori, ein bisschen Slotta. (Rätsel: Eine dieser drei Personen ist kein Pädagoge, dafür aber noch am Leben. Wer ist es?)
Am Ende haben irgendwie alle ein Plus. Zumindest eins.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.