Mittwoch, 4. November 2009
Eine Wagenladung Sportlehrer
Ja, genau, übers Aspirieren.
Das hat nichts mit Kopfschmerzen zu tun, jedenfalls nicht direkt. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass eine deutsche Delegation von Sportlehrern den Kopf schütteln würde, würde sie verstehen, würde sie sehen, worum es sich beim Aspirieren handelt; und ohne zu wissen, würden sie gleichzeitig aspirieren, denn das Bewegen des Kopfes ist fundamentaler Bestandteil der Aspiracion.
Wahnsinn.
Sportlehrer müssen eine unglaubliche Intuition zur körperlichen Betätigung haben; da, wo bei anderen das freudsche Über-Ich sitzt, sitzt bei Sportlehrern ein Reflex, man könnte auch von einem Bewegungsmelder sprechen, der automatisch das beobachtete Movement auf den eigenen Körper, auf das Ich, überträgt, während das Es sowieso die ganze Zeit routiert. Ganz schön anstrengend, so ein Sportlehrerdasein.
Ich bin keine Sportlehrerin. Zumindest kann ich eben beschriebenen Bewegungsapparat nicht in meinem europäischen Organismus wiederfinden. Aber wer weiß - ich hab ja noch neun Monate.
Spaß bei Seite. Es geht schließlich ums Aspirieren. Und das macht wirklich keinen Spaß; zumindest, wenn man es mitmachen muss.
Das senkt ganz schön das Selbstwertgefühl, da fühlt man sich schon ein Bisschen hirnie, erst recht, wenn man das Vergnügen hat, unter der prallen Sonne Zentralamerikas zu aspirieren.
Mittlerweile wäre meine Einladungsliste an den deutschen Planeten recht lang: Ein paar Herrschaften des Verkehrs- und Umweltministeriums wollte ich (wie etwas weiter unten bemerkt) in meine Straße zur Schallbegutachtung einladen, dann wiederum ein paar Sportlehrer und wenn wir schon bei der Betrachtung des hiesigen Unterrichts sind, würde ich mich über einen Besuch meiner Namensvetterin im nordrhein-westfälischen Schulministerium wirklich freuen.
Und ja, wenn wir schon mal dabei sind, würde ich Sigmund Freud auch einladen; schadet ja nicht. Der sagt sowieso ab bzw. erscheint nicht, denn er hat es sich schon im Erdreich bequem gemacht. Aber selbst, wenn er kommen könnte, würde er wohl nicht erscheinen. Dabei wäre das grenzenlose Aspirieren nicaraguanischer Schüler sicherlich interessant, vor allem die Auswirkungen auf ihre Psyche.
Ich will nicht sagen, dass die hier nicht alle Nadeln an der Tanne haben - abgesehen von der Tatsache, dass es hier keine Tannen gibt -, aber das mit dem Aspirieren ist wirklich so ne Sache. Wer sich das ausgedacht hat.
Hat man sich in NRW und an meiner alten Schule auch gefragt, als es plötzlich hieß, dass bei Stundenausfall EVA erscheint. Eigenständig verantwortliches Arbeiten oder so. Herrgott, noch nicht mal ein halbes Jahr aus der Schule und schon fallen mir derartige Abkürzungen nicht mehr ein. (Ich mache kurz den Test und frage mich, wofür DNA steht: Ich weiß es noch. Es ist noch nicht alles verloren.)
Zurück zum Aspirieren. Und zurück zu Barbara bzw. Eva.
Ich stelle mir vor, wie Frau Sommer und ich gemeinsam auf dem Campo stehen und uns die 5to A ansehen, die auf Kommando von Profe Sandra Verrenkungen macht (Profe Sandra stützt sich übrigens gekonnt frivol auf einen pinken Regenschirm ab).
Das sieht so aus: Jungens und Mädchen stehen in zwei Reihen parallel zueinander. Zunächst strecken alle den rechten Arm aus und legen ihn auf die Schulter ihres Vordermannes (Anmerkung meinerseits: Keine Übung für Deutsche). So haben sie den perfekten Abstand nach vorne, hinten, rechts und links, den sie zum hemmungslosen Aspirieren brauchen. Dann geht es los: UNO, DOS, TRES. Der Kopf wird angehoben, nach rechts gedreht, nach links gedreht, bei dos gucken die Ninos konzentriert geradeaus, so als ob sie das unendliche Nichts fixieren.
Es geht weiter.
Sie legen die rechte Hand auf die rechte Schulter und fangen an, Kreise zu drehen. Das gleiche mit der linken Hand und der linken Schulter. Dann gleichzeitg. Anschließend - Achtung: Aspiracion. Aspiracion ist ein Signalwort: Augenblicklich beschreiben alle Ninos mit ihren Armen einen Halbkreis, sie beginnen an den Knöcheln und schließen schließlich die Hände über dem Kopf. Es sieht aus, als wollten sie sich alle bei Buddha für die Blumen und die Vögel und die Pflanzen und die Welt bedanken, weil sie dabei auch noch betont ausatmen.
Diese Übung folgt auf alle anderen Übungseinheiten und Profe Sandra kennt ziemlich viele davon. Eine zum Beispiel betrifft die Füße: wie beim Ballett müssen die Kinder den Fuß heben und spreizen. Respekt, denke ich mir, sogar die Jungs machen mit. Entweder, sie haben viel Selbstvertrauen, oder sie haben gar keins. Vielleicht sind sie auch zu cool, um sich ernshaft übers Aspirieren aufzuregen. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mir ziemlich schnell ein ziemlich wasserdichtes Attest geholt hätte, wenn in Deutschland laut ausatmen auf dem Lehrplan gestanden hätte.
Immer noch stehen Barbara und ich am Campo und begutachten die Ninos der 5to A. Was sie wohl sagen würde, wenn sie diesen Einblick in das nicaraguanische Schulsystem tatsächlich gehabt hätte? Würden wir in Deutschland dann auch aspirieren, um uns anschließend auf die Fußspitzen zu stellen oder um wild mit den Hüften zu rotieren, so dass man schon beim Zusehen eine Protese braucht?
Und, Barbara, was denkst du?, frage ich sie.
Der nicaraguanische Wind hebt ihr blondes Haar für einen kurzen Moment. Sie fokussiert noch immer die Kinder der 5to A in ihren Schuluniformen, die zum wiederholten Male zur Aspiracion ansetzen.
Ich habe selbst fünf Kinder, sagt sie.
Ich nicke. Ja, das stimmt wohl. Das habe ich bei Wikipedia nachlesen können. Genau so die Tatsache, dass sie aus Bielefeld kommt. Aber das führt hier zu weit.
Etwas traurig setzt sie hinzu: Vier davon haben schon Abitur gemacht.
Ich nicke wieder. Der Wind wird ein bisschen stärker und rüttelt an den Uniformen der Kinder. Sie haben fertig aspiriert und scheinen darüber sehr froh.
Ich gucke über den Campo. Keine Aspiracion für deutsche Schulen. Auch ich atme erleichtert aus.
Danke, Barbara.
Keine Ursache, Barbara.
Sie setzt kurz an: Aber diese Uniformen ...
Nein, Barbara, nicht die Uniformen.
Sie zieht eine Schnute.
Na gut. Keine Uniformen.
Dann vielleicht doch die Aspiracion?
Nein. Hätte jede deutsche Schule einen Campo, dann vielleicht.
Sie wackelt ein bisschen mit dem Kopf, so als gefalle ihr das nicht. Dann erzähle ich ihr von den PCB verseuchten Schulen und dass eine Aspiracion in den dortigen Hallen sicherlich nicht im Sinne des Sportes bzw. des körperlichen Wohles ist.
Sie zieht die Unterlippe noch ein bisschen weiter vor. Aber schließlich habe ich sie von allem überzeugt und abgehalten.
Zusammen mit den deutschen Sportlehrern, die noch immer fassungslos die Köpfe schütteln, der deutschen Delegation des Verkers- und Gesundheitsamtes zieht sie mit Sigmund Freuds Schatten von Dannen.
So könnte es zumindest sein.
Noch immer etwas verwirrt, etwas ratlos, etwas rätselnd blicke ich den Kindern hinterher, die von selbst beginnen, Ballspiele oder Ringelreihen zu spielen. Das heißt hier Actividades libres und würde ich das in Deutschland einer Klasse von Pubertierenden sagen, wären die ganz schnell im Windfang Eine rauchen, die Mädchen würden sich in kleinen Gruppen auf dem Boden der Turnhalle zusammen finden und aufgeregt tuscheln; vielleicht würden ein paar Sportjunkies Körbe werfen.
In Nicaragua spielen sie Ringelreihen und machen wirklich Sport. Sie freuen sich auf den Unterricht - und wenn das Aspirieren erst mal rum ist, dann macht es sogar wirklich Spaß. Vielleicht sollte ich doch ein paar deutsche Sportlehrer einladen.
Ich habe einfach keine Ahnung.
Aber so ist das mit den Ahnungslosen: Sie staunen jeden Tag ein bisschen mehr.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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