Donnerstag, 5. November 2009
Mein Weg in die Kriminalität
Huch. Das erschreckt den Europäer. Diebstahl. Kriminalität. Korruption. Drogen.
Aber doch nicht dort, wo Bananen und Guallaba wachsen.
Doch.
Das sind Worte, deren Klang manchmal gespenstischer ist als die Realität.
Natürlich wird in Nicaragua geklaut; es fängt bei – in unseren Augen – banalen Dingen an, wie etwa Holz oder Kaffee. Das sind die Rohstoffe, die dieses Land nun mal stützen. Es geht weiter über alles andere, was irgendetwas wert ist; unseren Vorgängern wurde die Kamera geklaut und sie wurden hinterrücks mit einem Stiel vom Eis am Stiel bedroht. Letzteres klingt weniger bedrohlich, allerdings läuft es sich wesentlich entspannter, wenn man weiß, was einen da piekt. Lina, Vivi und Tim wurden an Orten wie Guanuca oder auf der Calle Central bereits von wachsamen Mitmenschen genauestens beäugt, und allen dreien wurden die Hosentaschen beiläufig untersucht. Erfolg konnte bisher kein Dieb bei uns verzeichnen.
Es sagt sich so läppisch, aber ich bin froh, dass ich diese Tradition fortsetzen konnte; wobei ich eigentlich diese Tradition auf andere Weise gebrochen habe. Ich muss gestehen, dass ich schon ein bisschen beschämt bin, denn eigentlich bin ich hier, um einen Freiwilligen Friedensdienst abzuleisten. Und dann rutsche ich mit einem Male in die Kriminalität dieses Landes ab und fange an, Gebote zu brechen, für die Moses extra auf einen Berg geklettert ist.
Zum Verständnis ein Exkurs ins procedere der unbemerkten Betrachtung und möglicher Weise forschen Annektierung privaten Eigentums: (ich kann nicht drumrum, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass das schnöde Wort privat aus dem Lateinischen kommt; toll, denkt sich die Leserschaft. Auf meinem Blog kommt so ziemlich alles aus dem Lateinischen. Da muss ich dagegen halten: meine Namensvetterin und Campuskollegin Barbara Sommer kommt immer noch aus Bielefeld. Sie sei jedoch ausnahmsweise nicht Gegenstand meiner heutigen Ausführungen. Worauf ich eigentlich hinaus will: Worte werden im Laufe der Jahrhunderte oft beibehalten, ändern jedoch ihre Bedeutung. So ist es auch mit dem schönen Wort privare, was so viel wie rauben heißt. Passt also richtig gut zum Thema. Zurück nach Matagalpa:)
Diejenigen, die es bevorzugt auf den Hosentascheninhalt von nichts ahnenden Gringos und Gringas abgesehen haben, stellen sich geschickt an: sie pirschen sich heran, gehen in der Menge unter, und ganz unbemerkt spürt man vielleicht im Gemenge des Gedränges ein bisschen mehr Körperkontakt als einem lieb ist. Denkt man sich nichts bei, aber so schnell können Handys verschwinden. Oder Kameras. Oder Ipods. Alles eben, was irgendwie was wert ist, - und das ist hier so ziemlich alles.
Flanieren in Matagalpa ist relativ gefahrlos, wenn auch größtenteils unmöglich. Zumindest nicht so wie an einer Strandpromenade auf Sylt oder Sizilien.
Denn: es ist eng. Und, ja, in Jinotega ist es vermutlich angenehmer, weitläufiger – das einzige, was den genüsslichen Spaziergänger dort am Fliegen hindert, ist die Erdanziehungskraft. Die gibt es auch in Jinotega.
Es hilft jedoch an dieser Stelle nicht, darüber nachzudenken, ob das Geschehene auch in Jinotega geschehen wäre oder ob es tatsächlich an Matagalpas prozentual sinkenden Bürgersteiganteil an einem Donnerstag gegen Mittag liegt: Lina, Vivi und ich marschierten gut gelaunt daher, machten vergnügt ein paar Witze und gerade, als Vivi zum Witz des Tages ansetzen wollte, geschah es: an einer Ecke wurde es noch enger als eng und so liefen wir alle hintereinander her. Ein Nicaraguaner hinter mir ließ mich vor und ich denke mir noch: Oha, ein Gentleman der alten Schule.
War er dann doch nicht. Denn während ich seinem Angebot Folge leiste und mich hinter meinen zwei amigas einreihe, drängt er sich ziemlich nah an mich und untersucht mit einem Tuch in seiner Hand meine Jackentasche.
In diesen Momenten geht meistens alles ziemlich schnell und es ist schwer zu sagen, ob man es lernen kann, intuitiv richtig zu handeln. Ich weiß nicht, was in mir ausgelöst wurde, mit Verstand hatte es zumindest nicht mehr viel zu tun, denn dafür braucht man bzw. ich ein bisschen Zeit. Und die hatte ich nicht.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich begann, zu blöken wie ein Schaf. Hey, hey, hey, hey. Senor!
Was klingt wie ein Lied der Beatles, war tatsächlich das einzige, was mir einfiel. Und irgendwie hat es geholfen. Ziemlich flott war der Gentleman der alten Schule auf der anderen Straßenseite.
Was hielt ich in den Händen? Das rosa Tuch, mit dem er versucht hatte, sich mein Handy anzueignen. Ich muss selbst ein bisschen verdutzt geguckt haben, als ich plötzlich das üble Tatwerkzeug vor mir sah. Dafür sahen mich alle anderen an: Vivi und Lina (die sich übrigens im Anschluss köstlich über mich und mein Handeln amüsierten), Eisverkäufer, Taxifahrer und natürlich alle anderen, die gerade in der Nähe des Parque Darios waren.
Hey, Senor, rief ich meinem ganz privaten (hihi) Dieb hinterher und hielt das rosa Tuch hoch. Er stand dabei bereits auf der anderen Straßenseite und er schien nicht den Eindruck zu machen, als wollte er rüberkommen, um sein Tuch zu holen, oder um sich für meine Aufmerksamkeit zu bedanken. Er verschwand schließlich zwischen ein paar Autos.
Es ist nichts dabei, sein Eigentum zu sichern. Da stimmt mir jeder zu. Aber was wäre das für eine Gesellschaft, wenn uns dies nur durch das Sichaneignen fremden Eigentums gelänge?
Die Freiheit des einen hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt, spülte es in meinem Kopf den schwammigen Schlamm aus ethischen und moralischen Wortfetzen aus dem Philosophieunterricht der 12 und 13 zusammen. Gedacht, gesagt, gemerkt, erinnert: gekonnt stoisch band ich das Tuch an eine Eisenstange; da wartet es jetzt auf ihn, bevor ich selbst zur Diebin werde.
Wenig später rufen mich meine Eltern an. Es ist ein schönes, vertrautes Gespräch, wir lachen viel. Wäre mein Handy zu diesem Zeitpunkt nicht mehr meines gewesen, wäre das Gespräch vermutlich anders - vielleicht kürzer und weniger herzlich - verlaufen.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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