Samstag, 7. November 2009

Trici Traca

Es ist Wochenende. Und gestern Morgen dachten wir doch tatsächlich, es gäbe Frost; ein sanfter Nebel lag auf unserer Straße und es erinnerte mich ein bisschen an die Zeit in Lettland vor 1 1/2 Jahren.
Da lacht der Deutsche bzw. das Thermometer, denn es waren 25 Grad und - liebe Leute, ohne Flax - das war ziemlich kalt! Tim und ich packten die Pullover aus und Mirte musste sich bei uns Decken leihen. Merkwürdig, was die Kombination Organismus und Klima bewirken kann.
Während das Wetter momentan möglicherweise ein Tief zu verzeichnen hat, verzeichne ich ein absolutes Hoch auf meinem ganz persönlichen Stimmungsbarometer: der gestrige Tag in der Schule war absolut klasse. Es fing damit an, dass Mary Lou einen engen roten Rollkragenpulli mit lauter kleinen Mickey-Mäusen anhatte. Das fand ich schon super.

Zunächst stand Englischunterricht in den ältesten Klassen auf dem Stundenplan; es gab den Test zurück, und ach, was ist das für ein herrliches Gefühl, wenn man da vorne steht, die Zettel der Macht in den Händen und Sätze sagen kann wie: Ihr kriegt jetzt den Test wieder; das Ergebnis ist durchwachsen; es sind einige sehr gute dabei und einige waren sehr ehrlich. Am schönsten sind die Blicke meiner Schüler bei solchen Worten.

Im Anschluss schrieb ich in einer anderen Klasse einen Test und ich kam mir vor wie Severus Snape in Hogwarts, während meine Schüler fassungslos das Kreuzworträtsel anstarrten, in das sie die englischen Zahlen eintragen mussten. Still schweigend und mit einem siegreichen Lächeln auf den Lippen durchschritt ich die Gänge zwischen den Stühlen und zauberte ein bisschen vor mich hin. Profe, el examen vale punctos?, fragt mich ein schüchternes Mädchen aus der ersten Reihe mit großen Augen. Ich weiß, dass je nach dem, was ich sage, ihr die Augen ausfallen werden. Ich gebe mich allwissend und sage: Vamos a ver.
Ich weiß, dass das, was ich mache, dass der Unterricht, den ich gebe, keine Bewertung der Schüler vorsieht: Es ist eher Unterhaltung. Wäre meine Einsatzstelle keine Schule sondern eine Fernsehanstalt, wäre ich vielleicht Günter Jauch oder Wiegald Boening (wobei ich auch still sitzen kann). Ab und an gibt es dann einen Test und dann ist es das.

Zum Abschluss des Tages ging ich allein mit der 4to B auf den Campo und das gab mir dann doch den Rest bzw. einen Dämpfer. Adolfo - ja, er heißt wirklich so - bat mich, auf seine Trici Tracas aufzupassen; das sind Knallfrösche und ich war ja schon froh, dass er sie mir anvertraute und nicht damit den Campo sprengte. Dalila hingegen war weniger verständnisvoll und tauchte kurze Zeit später mit einem Knochen in den Händen auf, den sie jedem vors Gesicht hielt. Dann kam auch noch ein Junge aus meiner Klasse und entpuppte sich als Partnervermittlung: Profe, die beiden Studenten da sagen, dass sie dir ein Lied singen, wenn du ihnen einen Kuss gibst.
Meine Authorität, die ich eben noch beim Examen in der 5to B verspürt hatte, schrumpfte auf einen jämmerlichen Haufen Verantwortung zusammen, der ich schwer gerecht werden konnte.
Für einen Weg von 5 Minuten brauchten wir 20 Minuten, und ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob nicht doch noch eines meines Kinder im nahe gelegenen Fluss spielt. Zu allem Überfluss waren Adolfos Trici Tracas verschwunden.

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.