Donnerstag, 12. November 2009
Was wäre ich ohne Mary Lou
Mit der 5to A wollte ich Völkerball spielen und es stellte sich als eine äußerst brutale Angelegenheit heraus, bei der die Jungs so richtig Gas gaben und die Mädchen eins ums andere in den Boden stempelten. Gut, dass wir nicht Schiffe versenken spielten, denn da hättem Profe Sandra und ich Leben retten müssen.
Sie legte mir danach nahe, das Spiel nicht noch einmal zu spielen.
Auf dem Weg vom Campo zurück zur Schule fragten mich einige Ninos (und auch ein paar Ninas), ob wir das nicht nochmal spielen könnten, es hätte so viel Spaß gemacht.
Ay, ay.
Bevor jedoch dies geschah, wusste Mary Lou meinen Puls zum Verzweifeln zu bringen. Kaum hatte ich die Schule betreten, sagte sie, sie müsse mal mit mir reden. Ich denke: scheiße, ich hab schon wieder zu viel gearbeitet. Ich erwarte also wirklich den nächsten Dämpfer und setze mich mit ihr ins Direktorat.
Mary Lou sagt: Da ist eine Sache, die ich dir sagen will.
Oh, oh, ok.
Ich nicke.
Sie sieht mich lange an, als wäre sie sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie es überhaupt sagen soll. Aber dann tritt wieder dieser energische Blick in ihre Augen, ihre Gesichtszüge verhärten sich und sie fixiert mich mit der Strenge eines Geparden.
Ich schlucke.
Und ich schwöre, ich habe nichts gemacht.
Ich mache mir ein bisschen Sorgen, sagt sie.
Warum, frage ich, aber meine Stimme ist versteinert, zu Eis erstarrt, aus Angst vor dem, von dem ich nichts weiß.
Ich glaube, sagt sie und mein Puls setzt in diesem Moment für eine gefühlte Ewigkeit aus, es wäre besser, wenn du dein Haar mit Avocado wäschst.
Jetzt setzt mein Verstand aus. Herz- und Verstandstillstand. Das ist eindeutig zu viel. Ich sehe sie ein bisschen beeinträchtigt an.
Womit wäschst du deine Haare, fragt sie und setzt ein liebevolles mi amor dazu.
Mit Shampoo, sage ich.
Mit welchem, mi amor.
Ich sage es ihr und sie schüttelt den Kopf.
Als du angekommen bist, war dein Haar anders. Jetzt ist es trocken. Probier es mit Avocado.
Ich nicke.
Okay.
Sie lächelt mich an.
Du weißt, dass ich dich sehr gerne habe, sagt sie. Mi amor.
Ich nicke wieder. Anscheinend tut sie das wirklich, denn sie scheint sich wirklich komplett mit meiner Person zu beschäftigen.
Danke, Mary Lou, sage ich.
Sie lächelt.
Das gehört dazu, fügt sie hinzu.
Wir lächeln beide. Und mit einem Kuss auf die Wange entlässt sie mich.
Ich bin immer noch ein bisschen verwirrt und sehe im Folgenden zu, wie die Ninos der 5to A sich gegenseitig abschießen. Aber es berührt mich nicht, vielleicht berührt es mich weniger, als es sollte, immerhin bin ich maestra. Die ganze Zeit gucke ich mir meine Haare an.
Und eines möchte ich noch klarstellen: Wer jetzt denkt, mir wachsen kleien Palmen auf dem Kopf, der irrt sich. Ich sehe weder aus wie Bob Marley noch wie Albert Einstein noch wie Bill von Tokio Hotel; und dass der es überhaupt auf meinen Blog geschafft hat, pikiert mich doch ein wenig.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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