Montag, 5. April 2010
Leon Viejo: Nichts und wieder nichts
Sie müssen noch einmal alle in die Berge, müssen zu den Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, sie gehen zu den Analphabeten - das alles hatten Norma und ihre Truppe bereits letzte Woche getan. Aber es gab Fehler bei der Auswertung und deshalb muss alles nochmal gemacht werden.
Damit Papa und ich nicht am nächsten Tag nichts-tuend Batido-schlürfend da sitzen, erstellen wir ratzfatz ein Ersatz-programm und es sieht vor: leon viejo. Denn die Stadt, die wir am ersten Tag besuchten, lag ursprünglich am Managuasee, direkt neben dem höchst aktiven Vulkan Momotombo und wurde auch von eben diesem durch einen Vulkanausbruch im Jahre 1609 zerstört, der ebenfalls mit einem starken Erdbeben einherging. Daraufhin entschloss man sich, die Stadt Leon neu aufzubauen, jedoch etwas weiter westlich, nahe am Pazifik.
Wir kommen gegen halb zwölf in Leon an, wo wir uns gleich nach der Weiterfahrt nach Leon Viejo erkundigen; auf den ersten Blick scheint unsere Rute einfach: Leon - La Paz Centro - Leon Viejo. Doch der Bus, der nach La Paz Centro fährt, ist ein absoluter Chicken Bus, das heißt, er hält an jeder Milchkanne. Ständig steigen Leute ein und aus, es besteht eine menschliche Osmose im Bus und wir haben Glück, dass wir zwei Plätze hinten im Bus gefunden haben. Es ist furchtbar heiß und der Schulbus braucht eine Ewigkeit für die verhältnismäßig kurze Strecke nach La Paz Centro.
Dort angekommen, blicken wir uns verwundert um - und stellen fest: hier ist nichts.
La Paz Centro ist eine dieser Westernstädte, in denen der Wind die Sträucher über die leeren Straßen fegt und nichts als Staub aufwirbelt, Fensterläden klappern und der Wind heult - in der Nacht. Hier ist es am Tag so. Ein paar Männer sitzen am Busbahnhof, trinken Cola und gucken Fernsehen in einer Bar, deren Boden platt getretene Erde ist. Wir setzen uns fesch dazu, trinken Fruchtsäfte und warten auf den Bus zum Momotombo.
Der kommt dann auch, im Bus sitzen zwei Mormonen, die uns fragen, ob wir schon ein mal vom Great Mormon gehört hätten. Wir verneinen und gucken aus dem Fenster, als der Bus sich schließlich ins Rollen setzt und wir dem Momotombo immer näher kommen.
In einer kleinen Stadt, unscheinbar und ohne feste Straße, spuckt uns der Bus aus. Der Busfahrer deutet in eine Richtung, murmelt Leon Viejo und die Uhrzeit, wenn der Bus wieder fährt.
Okay, kein Problem für uns, denken wir zumindest. Müden Schrittes schlurfen wir über den schwarzen Vulkansand und nähern uns dem Weltkulturerbe. Die Mauern Leon Viejos sind eingezäunt und wirken unscheinbar. Wir bezahlen den Eintritt und können eine persönliche Führung durch die Trümmer einer geplanten Weltstadt gerade noch mit dem Argument vermeiden, dass wir Archäologen sind.
Etwas schneller, damit uns niemand mehr vom ministerio de turismo nicaraguense verfolgen kann, passieren wir die traurigen Überreste des ehemaligen Leons. Es ist überschaulich, rote Steinmauern, hüfthoch, fünf, vielleicht sechs Meter lang. Wir laufen weiter, kommen an mehreren dieser Mauern vorbei und merken sehr schnell: hier passiert nicht viel.
Die kühle Idee einer leichten Brise wird vom See zu uns herübergetragen, zu uns, in diesem kleinen Wäldchen, mit all den altern Mauern um uns herum. Wir sind ein bisschen ratlos, denn das Weltkulturerbe schweigt und wir wissen nichts, zu antworten. Also machen wir ein paar lustige Fotos, besteigen einen kleinen Berg und sehen letztlich den Lago de Managua, sehen Palmen, die sich im Wind wiegen, dahinter, groß, mächtig, erhaben, schwarz, der Momotombo, - und fern der Ödnis jeglicher stillen Steinmauern muss man gestehen: das sieht schon schön aus hier.
Trotz der Idylle entscheiden wir uns nach geschätzten zwanzig Minuten, das Weltkulturerbe vor unseren Augen friedlich schlummern zu lassen. Fahren wir lieber zurück nach La Paz Centro, da ist mehr los.
Aber der Bus und der freundliche Busfahrer sind schon weg; zumindest scheint es so. Denn als wir zur gesagten Zeit am besagten Ort - einer ECKE - auf den Bus warten, kommt kein großes Fahrzeug vorbei. Nur ein Motito fährt die ganze Zeit wild durch die Gegend. Nicht fern von uns randaliert die Dorfjugend mit lautem Handygetöse die friedliche Stille in diesem namenlosen Ort und wir stellen weiter fest: ob Berlin oder Leon Viejo, die Jugend kann überall einen Knacks haben.
Irgendwann reicht es uns und wir halten das lustige Motito an; nach La Paz Centro wollen wir. Und für 80 Cordobas, ungefähr 3 Euro, fährt er uns diese Mörderstrecke durch die Hitze und den Staub. Nach zwanzig Minuten kommen wir wieder vor dem Busbahnhof La Paz Centros an und die Totenstille hier scheint fast schon wie ein Kanrevalsumzug.
Leon Viejo hin oder her - als wir schließlich wieder in der Stadt Leon angekommen sind, tobt hier ein buntes Treiben: es ist Freitag, Wochenende, und die Studenten versammeln sich beim Straßenfest, dessen Zentrum direkt vor der Kathedrale liegt.
Wir setzen uns in unser Lieblingsrestaurant, bestellen ein Beef Steak und lassen es uns so richtig schmecken. Schließlich kommt die Zeit für unsere letzte Feststellung: man kann sagen, was man will. Die Wüste hat ihren Charme.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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