Donnerstag, 13. Mai 2010

Ein festes Seil

Kurz bevor ich zur Schule gehe, schaue ich noch bei einer Pulperia vorbei. Ich habe gesehen, dass sie festes Seil haben, denn obwohl wir nun schon drei Wochen in unserem neuen Haus leben, haben wir noch nicht alles anbringen können, was wir mit uns brachten - und unsere Hängematte liegt noch immer unbenutzt herum.
Hola, sage ich, wie lang ist dieses Seil?
Die Frau an der Kasse und ihr jugendlicher Sohn beäugen mich misstrauisch.
Es ist schon lang, sagt der Junge zögernd.
Gut, meine ich zufrieden, ich brauche nämlich möglichst langes, festes Seil.
Sie kneifen die Augen zusammen.
Ich will eine Hängematte aufhangen.
Ah, okay, sie atmen erleichtert aus. Das ist so ne Sache mit den Seilkäufern, sagt der Sohn und wedelt mit den Armen in der Luft; immer, wenn jemand hier Seil kauft, sehe ich ihn am nächsten Tag im Fernsehen und erfahre, dass er sich umgebracht hat.
Oh, sage ich und bin ein wenig sprachlos. Dann ist es also sehr fest?
Sie nicken beide, fast beschämt.
Nun, ich bin zufrieden mit meinem Leben.
Sie lächeln mich dankbar an.
Ich kaufe drei Bünde. Als ich den Laden verlasse, rufen sie mir nach: Pass auf dich auf!

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Was es heißt, zu gehen

Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.

Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.

Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.

Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.