Dienstag, 11. Mai 2010
Ist es nicht langweilig hier?
Wir sitzen auf den Kirchenbänken der Iglesia San Jose, ein Priester hält Andrea Alexandra in die Luft und nennt sie nun bei ihrem Namen, er beträufelt sie mit Wasser und einige Tanten kriegen feuchte Augen. Im Anschluss singen wir und das stimmt mich etwas nachdenklich, denn wir singen ein Lied, das sonst nur bei Beerdigungen gesungen wird (das wissen wir noch von der Zeit, als wir am Friedhof wohnten).
Egal, anschließend geht es zum Haus der jungen Familie, das mit Luftballons und rosa Stoff geschmückt ist. Eine dreifache Torte steht direkt gegenüber des Eingangs und vermutlich verharren viele deshalb so lange auf den weißen Plastikstühlen.
Wir sitzen am Kindertisch.
Das hat Vor- wie Nachteil; ein Vorteil wäre, dass wir so im Gegensatz zu denjenigen in den hinteren Räumen Luft bekommen und nach draußen gucken können. Ein Nachteil - und so leid es mir tut - sind die Kinder. Es scheint, dass sie irgendwo auf Sendung sind, denn sie brabbeln die ganze Zeit, fragen uns nach Essen, aber auch wir dürfen die Dreietagentorte nicht anschneiden. Aber das ist auch das einzige, das passiert. Andrea Alexander wird von ihrem Vater Henry durch die Festräume getragen, Fotos werden geschossen, Andrea gähnt, die Festgemeinde lacht, es wird ein bisschen geschwiegen, dann wird sich wieder umgeguckt, man wartet, guckt mal kurz zur Torte, Henry kommt wieder, dieses Mal in Begleitung seiner Frau, sie bedanken sich für die Geschenke, wir gucken wieder zur Torte, Henry zündet eine Kerze an und wechselt das Lied, das gerade durch das Haus schallt, wir gucken zur Torte, ein dickes Kind fragt mich, wann es endlich essen gibt, der Vater lacht, da erzählt das Kind, das sein Vater Stinkefüße hat, der Vater lacht nicht mehr, wir gucken wieder zur Torte, gucken auf die Uhr, machen ein Foto mit Andrea Alexandra, Henry legt sie schlafen, wir schweigen und gucken auf das Fußballfeld gegenüber, wo ein Franziskanermönch mit ein paar nicaraguanischen Studenten in Kutte und mit langem Bart Fußball spielt. Irgendwann geht er. Ein dickes Mädchen guckt mich an, stützt den Kopf auf die Arme und meint: "Stimmt doch, dass es hier langweilig ist?"
Gerade in diesem Moment erscheint ein wenig Abwechslung in Form von Curryreis mit einer Scheibe Rote Bete (und ich habe nie verstanden, warum es Rote Bete heißt und wie man ihren Plural bildet), Cannelloni mit Hühnchenfüllung und Salat. Die Kinder an unserem Tisch scheinen abgelenkt, aber nein, sie spielen ein Spiel, mit uns. Wer als erster fertig ist, hat gewonnen.
Ich rühme mich nicht mit solchen Dingen, aber ja, ich habe gewonnen. Allerdings habe ich dafür etwas anderes verloren, nämlich den Nachtisch; wir gehen, bevor die Torte überhaupt angeschnitten wird.
Was es heißt, zu gehen
Mit knapp zwanzig Jahren Lebenserfahrung habe ich mich entschlossen, ab Sommer 2009 für ganze zwölf Monate nach Nicaragua zu gehen; dass es geklappt hat, hatte ich zwischendurch nicht wirklich gedacht; aber dass ich nun, Anfang Juli, so kurz vor der Ausreise stehe und meine Schulzeit einfach so an mir vorbei gegangen ist - das ist noch weniger zu begreifen. Ich werde natürlich an diesem Zustand nichts ändern können und freue mich tatsächlich wahnsinnig auf die Zeit in Mittelamerika. Bisher haben sich meine Auslandserfahrungen auf den europäischen Raum begrenzt; am 23. Juli geht es jedoch los in ein Land, von dessen Existenz ich zuvor zwar wusste, aber an das ich doch zugegeben wenig gedacht habe - und das ich geographisch als Abiturientin "drüben" eingeordnet habe.
Innerhalb eines Jahres werden sich mein Weltbild, meine geographischen und kulturellen Kenntnissen verschieben, neu ordnen. Ich werde einen Teil der Welt kennen lernen, der von Armut, Korruption, Drogen und der Hoffnung auf Besserung bestimmt wird, - aber genau so von Gastfreundlichkeit, Freude am Leben und an dem wenigen, das man hat.Ich verlasse meine Heimat, ohne zu wissen, was Heimat eigentlich ist.
Natürlich werde ich wiederkommen - jedenfalls gehe ich stark davon aus -, aber die Entwicklung, die ich in diesem Jahr vollziehen werde, ist jetzt noch gar nicht abzusehen. Es fällt leicht, über all diese Dinge an einem warmen, geheizten Ort (im Winter) zu schreiben, wenn man von all dem umgeben ist, das man zum Leben braucht. Wie es tatsächlich in Nicaragua aussieht, was sich tatsächlich hinter dem Wort Armut verbirgt und was man als Europäer tun kann oder tun muss, werde ich erst in einem Jahr wissen. Dieser Blog ist daher zweierlei: einerseits eine Informationsstation, die allen, die es interessiert oder auch nur zufällig hierher stolpern, Eindrücke meines Lebens in Nicaragua schildern soll; andererseits eine Gedankenkiste, in der ich all das verarbeiten und mitteilen kann, was ich hier erlebe; im Großen und Ganzen ist es dabei auch ein Beitrag meinerseits, um eine Welt, die unglaublich verknüpft ist und die denkbar unvorstellbar von der Technik und dem Fortschritt profitiert, zu ermöglichen, die sich in all der Schnelllebigkeit auch noch gegenseitig versteht und zuhört.
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