Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch 6 1/2 Tage, bis wir uns in ein Flugzeug setzen und den Weg nach Hause antreten. Vor einem Jahr habe ich das gleiche auf dem Blog meines Vorgaengers gelesen und ich habe mich gefragt, wie man sich dabei fuehlt. Wie es ist, wenn man mit dem einen Bein in einem Land steht, das man bald verlassen wird und vielleicht erst in Jahren wiedersehen kann, wenn es schon wieder ganz anders ist; und wenn man mit dem anderen Bein ausholt, um wackelig Halt in einem vertrauten Land zu suchen, wobei man nicht genau weiss, auf was man sich da einlaesst.

Noch begreife ich es nicht wirklich; versuche, so routiniert wie zuvor zu leben – und doch: ich erlebe diese letzten Tage ein wenig taumelnd; auf der einen Seite bin ich aufgeregt, kann schon lange nicht mehr richtig schlafen, werde morgens um fuenf wach, egal, wann ich ins Bett gehe - auf der anderen Seite laufe ich durch Matagalpa und denke mir: Geniess es, jeden Schritt, jeden Bissen Gallo Pinto, den Kaffee in meinem Lieblingskaffee, jede Stunde, die ich gebe; und dann ist da doch immer noch dieses Kribbeln. Es ist ganz erstaunlich, denn gerade, so kurz vor Abflug, wuensche ich mir mehr Zeit, ueber all das nachzudenken – dabei hatte ich ein Jahr. Und dabei habe ich die Zeit unterschaetzt; denn auch wenn die Wochen – und manchmal sogar die Unterrichtsstunden – im Projekt langsam vergehen, irgendwann war immer Freitag, und das Wochenende vergeht schnell; selbst im Oktober war ich noch davon ausgegangen, dass ich ein ganzes Jahr vor mir habe.
Was habe ich in all der Zeit getan?
Ich denke an mein Projekt, das von vielen eher belaechelt wurde, weil ich mich dort pro Tag maximal vier Stunden aufhielt; aber ich wuerde dennoch nicht sagen, dass es unnuetz ist, dort einen Freiwilligen hinzuschicken. Schueler haben mich an Feiertagen und nach dem Unterricht besucht, ich habe Geschenke und kleine Bildchen bekommen und sie alle adoptieren wollen.
Natuerlich hatte ich auch ein tolles Jahr, gerade weil ich so viel Zeit hatte, aber ich habe auch das Leuchten in den Augen der Kinder gesehen, wenn sie hoerten, dass wir zum Sportplatz gehen. Noch immer, nach einem Jahr (oder vielleicht gerade deshalb), betrete ich die Schule nie, ohne nicht von einem Haufen lachender Kinder umgerannt zu werden. Sie gruessen mich: Hola Profe und auf dem Weg zum Direktorat kommen mir wieder ein paar entgegen, die mich ganz aufgeregt fragen, ob wir heute educación física machen. Wenn ich nicke, dann springen sie ueber den Schulhof und umarmen sich gegenseitig und freuen sich ganz arg.
Wenn ich dann das Direktorat betrete, sitzen dort Norma und Judith bereits seit sieben Uhr morgens. Der Ventilator ist an und trotzdem faechern sie sich noch Luft mit einem kleinen Tuch zu. Hola corazón, sagen sie, begruessen mich und legen augenblicklich alles beiseite, um sich mit mir zu unterhalten. Wie es mir ginge, wie lange ich noch hier sei, was ich am Wochenende gemacht haette (oder bei welcher Polizeistation ich dieses Mal gewesen sei).
Dann klingelt es auch schon, ich nehme mir die zwei Sportbaelle, die ich vor einem Jahr mitgebracht habe und die bereits seit Maerz kaum noch Luft in sich haben. Und so schnappe ich mir eine Klasse, laufe mit dreissig und manchmal auch sechzig Kindern auf den Spielplatz, wir passieren das Primero de Mayo, eines der aermsten Viertel Matagalpes, sehen Maenner auf Motoraedern oder an Laternen lehnen, sie gucken uns hinterher und lachen dreckig, aber so ist es vielleicht in Nicaragua.
Viele meiner Schueler haben Loecher in den Schuhen und in den Hosen, bei einigen kann man sehen, dass Hemden notduerftig, geradezu verzweifelt geflickt wurden, und doch sind sie froehlich, haben ein Laecheln im Gesicht, und verstehen es, sich an kleinen Dingen zu freuen.
Zu Beginn des Sportunterrichts teile ich die Kinder in zwei Reihen auf; eine Reihe fuer die Maedchen, eine Reihe fuer die Jungen; dann bestimme ich zwei Assistenten, die mir beim Calentamiento, beim Aufwaermen, helfen. Es sind immer andere und sie freuen sich ueber diesen Job. Wenn wir ein Wettrennen oder Macho parado (Voelkerball) gespielt haben, gebe ich den Maedchen einen Ball und den Jungen einen Ball und sie geniessen es, ueber den weiten Campo zu rennen un dalles hinter sich zu lassen.

Wenn ich dann wieder meinen Heimweg um fuenf oder um sechs Uhr abends antrete, dann sehe ich die Berge Matagalpas im Licht der untergehenden Sonne; hier ist immer Sommer, und nur wenige der Baeume dort haben einen andere Farbe. Wir haben uns darán gewoehnt, keine Jahreszeiten mehr zu haben, und deshalb wird uns auch kalt, sobald das Thermometer weniger als 25 Grad anzeigt.
Wie ist das, wenn man ein Jahr nicht in Deutschland war? Ich konnte schon nach einem halben Jahr nicht mehr sagen, was ich dort gegessen habe, was mein Lieblingsgericht ist, wie ich die Tage dort gestaltet habe, und es fiel mir nur auf, wenn ich mich langweilte. Dafuer waren andere Dinge einschneidender, andere Unterschiede groesser; es waren oft kleine Dinge, die doch alles mit einem Mal anders haben erscheinen lassen. Stromleitungen haengen hier in der Luft, man kann sie sehen, auch, wenn sie angezapft werden. Wo fliesst der Strom in Deutschland, haben mich meine Schueler gefragt, ob er unsichtbar sei? UNd ob er dort, in Deutschland, auch ab un dan verschwinden wuerde, fuer ein ratito? Nein, habe ich gesagt, in Deutschland ist der Strom immer da, auch das Wasser, und das fanden sie ganz unglaublich. Ich habe einem Freund erzaehlt, dass meine Mutter Gardinen waschen muss und dass es sehr aufwaendig sei, und da hat er mich angeguckt und gesagt: Aber sie hat doch eine Waschmaschine. Hier waescht man auch die Gardinen von Hand, - und deswegen hat kaum jemand Gardinen.
Aber es sind nicht nur diese Dinge, die die Entscheidung, nach Nicaragua zu gehen, zu einem so grossen Schritt gemacht haben: mit einem Male bin ich vollkommen fuer mich selbst verantwortlich, ich zahle meine Rechnungen, ich koche, und wenn nichts im Kuehlschrank ist, dann ist nichts im Kuehlschrank. Ich wasche meine Waesche selbst und irgendwie findet man Freunde, um sich vor der Einsamkeit zu schuetzen, die schnell mit Heimweh gleichkommen kann, wenn man sich an einem Ort befindet, den man nicht wirklich kennt.
Aber Heimweh hatte ich nie; ich habe an Deutschland gedacht, natuerlich. Und es ist komisch, wenn der Oktober heiss ist und der Januar noch heisser; aber ich habe nie gesagt: Jetzt waere ich gern in Deutschland, denn meine Zeit hier ist begrenzt.
Vieles von Deutschland habe ich vergessen; oft habe ich den Leuten von einem Land erzaehlt, das erst dadurch fabelhaft wurde, dass ich mir selbst, bei dem, was ich erzaehlt, nicht mehr ganz sicher war. Ich habe es im Winter ein bisschen dunkler und kaelter gemacht, habe es ein bisschen kulturell unerfahren ("Wie, ihr kennt keine platanos?")in ihren Augen erscheinen lassen, und irgendwie hat es mir gefallen.
Ich habe mit gottesfuerchtigen Grossmuettern ueber den Glauben gesprochen und darueber, dass es Drogen auf der ganzen Welt gibt. Ich habe mich mit Taxifahrern unterhalten und mit meinem Vermieter gestritten, auf einer Sprache, die nicht meine ist. Ich habe ein bezaubernd schoenes Land gesehen, das auch durch einen Punkt fasziniert, der gleichzeitig sein groesstes Problem ist: die Armut. In Managua fahren Pferdewagen neben dicken Autos, Kinder kommen in Cafes und fragen nach einem Cordoba und irgendwann habe ich mir meinen eigenen Weg gebahnt, habe gelernt, mit all dem umzugehen und mich anzupassen oder mich vielleicht zu veraendern. Ich sehe nun die Vorteile, die ein Land wie Deutschland mit sich bringt: eine sichere

Politik, an der man zwar rummeckern kann, die aber nicht auf tote Revolutionaere aufbaut; eine solide Sozialversorgung, staatliche Unterstuetzung, wenn man sie benoetigt, sexuelle Aufklaerung - denn in keinem Land bisher habe ich so viele schwangere Frauen gesehen, und gewiss nicht alle dieser Kinder, koennen die Versorgung erhalten, die sie benoetigen. Aber genau so ist es auch ein Vorteil, zu wissen, dass die eigene Familie dir hilft, egal, was passiert.
Andererseits sehe ich all die Dinge, die bei uns scheinbar in Vergessenheit geraten: ein Familienleben, das ueber Vater, Mutter, Kind hinausgeht, sondern tatsaechlich alle mit einschliesst: Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins. Die Leute hier versorgen sich selbst, sie backen ihr Brot selbst, sie roesten ihren Kaffee selbst und laufen von Markt zu Markt, um die billigsten Tomaten zu finden. Alles hier ist frisch, es schmeckt anders - aber warum schmeckt es so? Weil die Menschen kaum Maschinen besitzen und erst recht nichts spritzen.
Ich liebe mein Projekt, ich liebe Matagalpa und Nicaragua; und ich wuerde gerne laenger bleiben, aber genau so merke ich, dass es nun Zeit fuer mich ist, zu gehen. Ein Jahr ist vorbei, ein ganzes Jahr. Es ging ganz schnell.
Jetzt kommen wir am 21. Juli 2010 in Duesseldorf an, um 11:25 Uhr. Und das verstehe ich bis heute nicht.